Berlin.

Umstritten ist das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA schon lange. Doch seit am Montag die Umweltorganisation Greenpeace geheime Verhandlungsdokumente zu TTIP veröffentlichte, hat der Konflikt eine neue Qualität erreicht: Die Kritiker fürchten jetzt erst recht, dass das Abkommen europäische Standards aushöhlen wird, und fordern den Abbruch der Verhandlungen. Auch wenn die Bundesregierung Zweifel zerstreuen will – der Streit wird schärfer, der Rückhalt auch im Bundestag schwindet.

Wie brisant ist die Enthüllung?

Seit Beginn der Verhandlungen zur „Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft“ vor drei Jahren werden die Dokumente geheim gehalten. Diese Geheimhaltung ist ein zentraler Kritikpunkt der TTIP-Gegner, die eine Aushöhlung von Verbraucherschutzstandards fürchten. Jetzt hat Greenpeace nach eigener Darstellung 240 Dokumentenseiten zugespielt bekommen, die den Zwischenstand vor der letzten Verhandlungsrunde Ende April widerspiegeln – mit den Positionen beider Seiten. Greenpeace veröffentlicht zum Quellenschutz nur Abschriften, doch niemand stellte am Montag die Echtheit der Dokumente in Zweifel. Aus ihnen geht hervor, dass die US-Regierung die EU viel stärker unter Druck setzt als bisher bekannt. Und die Gemeinsamkeiten sind viel geringer als erwartet, obwohl die Verhandlungen eigentlich in wenigen Monaten abgeschlossen sein sollen. „Das Ausmaß der Uneinigkeit ist erstaunlich“, sagt Greenpeace-Handelsexperte Jürgen Knirsch.

Was genau wollen die USA?

Sie blockieren den Dokumenten zufolge Exporterleichterungen für die europäische Autoindustrie, die für die EU von großer Bedeutung sind – damit wollen die USA die Hürden und Zölle für ihre Agrarexporte drastisch senken, auch für ihre Lebensmittel aus Gentechnik. Europäische Widerstände gegen Chlorhähnchen, Rindermast mit Hormonen oder Gentechnik sind aus US-Sicht nur ein „unzulässiges Handelshemmnis.“ Die EU soll auf US-Wunsch auch grundsätzlich das Verfahren bei Verbraucherschutzregulierungen ändern – mit mehr Mitsprache für Industrievertreter. Und die USA halten weiter an den umstrittenen privaten Schiedsgerichten fest, die Streitigkeiten von Investoren mit ausländischen Regierungen regeln sollen. Ein von Deutschland forcierter EU-Vorschlag für öffentliche Schiedsgerichte wird von Washington ignoriert.

Was ist mit dem Vorsorgeprinzip?

Die USA wollen auch das europäische Vorsorgeprinzip aushebeln: In der EU können Produkte bei drohenden Gesundheitsgefahren auch vorsorglich vom Markt genommen werden, selbst wenn eine umfangreiche wissenschaftliche Bewertung noch aussteht. Und vor Genehmigungen muss die Unschädlichkeit nachgewiesen werden – ob es sich um Lebensmittel, Medizin, Umweltstandards oder Chemikalien handelt. In den USA verschwindet ein Produkt erst aus den Regalen, wenn Gefahr oder Schaden nachgewiesen werden. Dann drohen Unternehmen indes viel höhere Strafen als in Europa.

Warum war das alles geheim?

Die USA bestehen aus taktischen Gründen auf die Vertraulichkeit ihrer Positionen. Sie wollen sich damit Verhandlungsspielraum erhalten – auch wenn natürlich die grundsätzliche Haltung der USA bekannt ist. In Berlin und Brüssel wird das Ausmaß der Geheimhaltung seit Langem kritisiert, die EU veröffentlicht ihre Textvorschläge seit 2015. Der endgültige Vertragsentwurf wird allerdings veröffentlicht, bevor erst EU-Rat und EU-Parlament, dann nach allgemeiner Erwartung auch die nationalen Parlamente über ihre Zustimmung entscheiden.

Was sagen die Kritiker?

Greenpeace meint, das TTIP-Abkommen sei nicht mehr zu retten und gehöre „in den Mülleimer“. Wenn sich die USA durchsetzten, gehörten viele Schutzstandards der Vergangenheit an. Auch der Chef der Verbraucherschutzverbände, Klaus Müller, warnt, mit den US-Positionen würden neue verbraucherschützende Vorgaben in der EU stark behindert. Die einflussreichen SPD-Linken im Bundestag fordern ebenso wie die Opposition schon den Abbruch der Gespräche.

Sind es nicht bloß Forderungen?

Zunächst ja. Das ist auch die Position der Bundesregierung. „Verhandlungspositionen sind keine Verhandlungsergebnisse“, ließen Kanzlerin Angela Merkel und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel erklären. Die Regierung will an den sozialen, ökologischen und rechtlichen Standards nicht rütteln lassen. Agrarminister Christian Schmidt (CSU) betont, sensible Bereiche wie Lebensmittelsicherheit seien auch kein „Tauschobjekt gegen gemeinsame Technikstandards“. Auch EU-Kommissarin Cecilia Malström versicherte, die unterschiedlichen Positionen der EU und der USA seien keine Überraschung, das lasse aber keine Rückschlüsse auf die Vereinbarung zu. Der Präsident der Bundesvereinigung der Arbeitgeber, Ingo Kramer, sagte dieser Zeitung, er sei in keiner Weise beunruhigt: „Es ist völlig normal, dass bei Verhandlungen unterschiedliche Forderungen der Verhandlungspartner auf den Tisch kommen“, sagte Kramer. „So wie die amerikanische Seite Wünsche vorgebracht hat, die wir nicht erfüllen wollen, haben auch die Europäer Forderungen eingebracht, die in den USA auf wenig Gegenliebe stoßen.“ Einige TTIP-Befürworter werfen Greenpeace eine unzulässige „Skandalisierung“ vor. „Mit der Veröffentlichung von Verhandlungszwischenständen werden bewusst Ängste geschürt, um das Vorhaben zu diskreditieren“, erklärte der Autoindustrieverband VDA.

Ist TTIP jetzt in Gefahr?

Ja. Das Abkommen galt schon vorher als gefährdet, der Zeitverzug ist groß. Wenn es nicht gelingt, die Verhandlungen in diesem Jahr noch während der Amtszeit von US-Präsident Barack Obama abzuschließen, dürfte TTIP kaum zu retten sein. Obamas potenzielle Nachfolger haben ihre Skepsis bereits signalisiert. Doch gegenwärtig werden erst 13 von 25 Kapiteln des Abkommens diskutiert – und die Differenzen sind enorm.

Wie verhält sich die Regierung?

Offiziell kämpft die Bundesregierung für die Vereinbarung. Die Exportnation Deutschland sei wie kaum eine andere Volkswirtschaft auf einen freien Welthandel angewiesen, jeder vierte Arbeitsplatz hänge davon ab, hieß es. Doch tatsächlich sind die Zweifel in der Regierung gewachsen. Wirtschaftsminister Gabriel hat bereits vor einem Scheitern gewarnt. Am Montag ging auch SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann auf Distanz: „Die jetzt bekannt gewordenen Forderungen der USA sind nicht akzeptabel.“ Die Widerstände in der SPD dürften zunehmen. Dabei müsste der Bundestag das Abkommen ratifizieren.

Wie reagiert die Wirtschaft?

Sie setzt weiter auf TTIP. Arbeitgeberpräsident Kramer sagte dieser Zeitung: „TTIP ist auf absehbare Zeit die wohl letzte große Chance, den Welthandel im transatlantischen Interesse mitzugestalten und demokratische Prinzipien für fairen und freien Handel zu verankern.“ Die TTIP-Gegner dächten nicht nach vorn: Wenn die Verhandlungen scheiterten, legten andere die Spielregeln für den globalen Handel des 21. Jahrhunderts fest. „Und das werden nicht nur Demokratien wie die USA und die EU sein.“ Kramer warnte: „Ich glaube kaum, dass dann weltweite Standards entstehen, die wir uns hierzulande wünschen.“