Berlin/Hamburg. Sicherheitsexperten sprechen von einer abstrakt hohen Gefährdung – eine Umschreibung dafür, dass ein Attentat jederzeit geschehen kann

Die Warnung via Twitter ist deutlich. „Macht euch auf mehr Bomben gefasst – auch in Deutschland“. Noch ist unklar, ob der „Islamische Staat“ (IS) getwittert hat oder Trittbrettfahrer im Internet. Nach Anschlägen wie in Brüssel „wird das Grundrauschen erheblich höher“, erzählt ein Geheimdienstmitarbeiter. Dann steigt das Aufkommen an Informationen und Warnungen. Jeden Tag gehen bei den deutschen Sicherheitsbehörden im Durchschnitt vier Terrorhinweise ein. Die Quantität ist ständig gestiegen, die Qualität nicht unbedingt. Wirklich gefährdungsrelevant sind schätzungsweise zehn im Monat. Deutschland gilt als potenzielles Anschlagsziel für Terrornetzwerke wie den IS. Förmliche Warnstufen wie in Belgien gibt es nicht. Von einer abstrakt hohen Gefährdung ist die Rede – eine Umschreibung dafür, dass ein Attentat jederzeit geschehen kann. Für den Berliner Verfassungsschutzchef Bernd Palenda ist es die höchste Warnstufe, „höher geht es nicht – alles, was danach kommt, ist Bumm“, sagte er neulich.

Jeden Dienstag tagt routinemäßig sowieso die Sicherheitslage im Kanzleramt. Zur Handlungsroutine gehört auch, dass der Innenminister rasch zur Stelle ist, wiewohl Thomas de Maizière (CDU) zunächst kaum mehr verraten konnte, als dass er „mitten in der Lage“ sei – will sagen: unsichere Faktenlage – und keine Bewertung abgeben könne. Er wies die Bundespolizei an, ihre Patrouillen an Grenzen und an den Flughäfen und Bahnhöfen zu verstärken.

Der Staat zeigt Stärke: Verschärfte Kontrollen am Hamburger Flughafen

Am Hamburger Flughafen tragen die Beamten Maschinenpistole und Schutzweste. Am Morgen sind alle Flüge in die belgische Hauptstadt gestrichen worden. Der letzte Flug nach Brüssel startete um sieben Uhr früh.

Die Terroristen in Brüssel schlugen vor den Sicherheitsschleusen zu, in der Terminalhalle. Terrorismusexperten wie Professor Arndt Sinn, Direktor des Osnabrücker Zentrums für Europäische und Internationale Strafrechtsstudien, fordern schon länger schärfere Kontrollen an öffentlich zugänglichen Orten wie Bahnhöfen oder Flughafenterminals. So würden beispielsweise in chinesischen Großstädten sämtliche Gepäckstücke noch vor Betreten der U-Bahn gescannt. „Darauf sollten wir, zumindest übergangsweise, auch in Deutschland nicht verzichten“, sagte Sinn dem Abendblatt. „Vor zu allem entschlossenen Einzeltätern kann man sich nicht schützen“, warnt indes der Hamburger Luftfahrtexperte Heinrich Großbongardt. Terminalgebäude gehören für ihn zum öffentlichen Raum wie Bahnhöfe oder Einkaufszentren, den man sicherheitstechnisch nicht vollständig abriegeln könne.

Nach Erkenntnissen des Hamburger Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) gehören 460 Personen in der Hansestadt der extremistisch-salafistischen Szene an – 60 mehr als noch 2014. Davon seien rund 270 Dschihadisten, Islamisten also, die den bewaffneten, militärischen Dschihad unterstützen. Im Untergrund agiere die bereits 2003 vom Bundesinnenministerium verbotene islamistische Organisation Hizb ut-Tahrir (HuT). Etwa 120 Anhänger rechnet der LfV der HuT in Hamburg zu. Die Gruppe suche Kontakt auch zu Flüchtlingen, etwa indem sie Hilfe bei Behördengängen anbiete, Fußballspiele oder Grillfeste organisiere. Die Islamisten in Hamburg seien in Kleinzirkeln organisiert. Von den Männern, die sich an den allgegenwärtigen Koranverteilungsaktionen in der Stadt beteiligten, sei ein Teil in die IS-Kampfgebiete ausgereist. Insgesamt hätten 65 Personen aus Hamburg versucht, in die IS-Gebiete zu reisen, ein Drittel sei zurückgekehrt, etwa 15 Islamisten ums Leben gekommen. Die Gefährdungslage sei „nach wie vor hoch“, sagte LfV-Chef Torsten Voß. Die Sicherheitsbehörden arbeiteten seit Jahren mit Hochdruck daran, die islamistische Szene im Fokus zu behalten. Eine „hundertprozentige Sicherheit gibt es natürlich nicht“, räumt Voß ein.

Deutschland ist allerdings auch nicht Belgien. Anders herum: Belgien hat ungleich größere Probleme mit Islamisten. Die dortigen Behörden beziffern die Zahl der Islamisten, die in den Irak und nach Syrien in den Dschihad gezogen sind, mit 451. Es ist eine relativ hohe Zahl für ein kleines Land – und für den IS ein Reservoir an Kämpfern, aus dem er Attentäter rekrutieren kann. Aus Deutschland sind nach Angaben des Verfassungsschutzes aber auch rund 800 Islamisten ausgereist. Zwar erklärte de Maizière gestern, dass es „keinerlei Hinweise“ über einen Deutschland-Bezug der Täter von Brüssel gebe. Halbwegs gesichert ist, dass der in der belgischen Hauptstadt verhaftete Paris-Attentäter Salah Abdeslam durch halb Europa gereist ist, in Italien, Griechenland, Ungarn, Österreich, Holland und Frankreich unterwegs war und am 9. September mit zwei Begleitern an der ungarisch-österreichischen Grenze kontrolliert worden ist. Am 3. Oktober soll er nach Auskunft der belgischen Behörden in Ulm gewesen sein. Der Südwestrundfunk berichtete unter Berufung auf polizeiliche Ermittlungen, Abdeslam könnte dort drei Männer, die sich als Syrer ausgegeben hatten, aus einer Flüchtlingsunterkunft abgeholt haben.

Die deutschen Behörden sind hoch sensibilisiert, faktisch seit Monaten im Alarmzustand. So erklären sich auch die Absage eines Fußball-Länderspiels in Hannover Ende 2015 und die Räumung des Münchner Hauptbahnhofes zu Silvester. De Maizière glaubt, dass es kein Zufall war, dass sich die Brüsseler Attentäter den internationalen Flughafen und eine U-Bahn-Station in der Nähe der EU als Ziele ausgesucht haben. Für ihn steht fest, dass der Anschlag nicht nur Belgien galt, sondern unserer Freiheit, „deswegen fühlen wir uns genauso betroffen.“

Dass der Terrorismus ein grenzüberschreitendes Problem ist, steht außer Frage. Eine der häufigsten Forderungen ist, den Informationsaustausch zwischen Polizei-, Justiz- und EU-Behörden zu verstärken. Schon nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde die Counter Terrorism Group (CTG) gegründet, ein Zusammenschluss von 30 europäischen Geheimdiensten. Schon vor dem Brüsseler Anschlag hatte die CTG vereinbart, im ersten Halbjahr eine Plattform einzurichten. Es bedürfe „einer gemeinsamen Gegenstrategie“, sagte der Leiter des niederländischen AIVD und derzeitige CTG-Vorsitzende, Rob Bertholee.

Die Erkenntnislage der Geheimdienste ist trotz vieler Hinweise oft relativ dünn

Trotz vieler Hinweise ist die Erkenntnislage dünn. Keiner weiß es besser als Bertholee und Maaßen. Am 13. November 2015 berieten die Geheimdienstchefs vom CTG in Luxemburg die Lage. Es war ein Nachmittag, den die Runde nie vergessen wird. An diesem Freitag gingen sind arglos auseinander. Nur Stunden später, am Abend, schlugen die Attentäter in Paris zu.