Berlin.

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) fordert mindestens eine halbe Milliarde Euro zusätzlich für die Integration von Flüchtlingen. Im Abendblatt-Interview mahnt sie, die Arbeitsmarktintegration werde nicht von allein passieren.

Hamburger Abendblatt: Frau Ministerin, 80 Prozent der Bürger haben den Eindruck, die Bundesregierung habe die Flüchtlingskrise nicht im Griff. Irren die alle – oder läuft da was schief?

Andrea Nahles: Die Regierung hat die Lage den Umständen entsprechend gut im Griff, die Kommunen und Bundesländer auch. Aber die Zahl der Schutzsuchenden ist weiterhin enorm und wir haben keinen Knopf, mit dem wir die Fluchtursachen einfach abstellen können.

Braucht es nicht eine Begrenzung
der Flüchtlingszahl?

Nahles: Wir sind uns einig: Der Zustrom muss reduziert werden. Die Frage ist wie. Debatten um Scheinlösungen wie Grenzschließungen helfen nicht weiter. Der wirtschaftliche Schaden wäre enorm, der Verlust an Freiheit ebenso. Was wir vor allem brauchen, ist eine politische Lösung in Syrien, Stabilität im Nordirak. Schließlich benötigen wir eine solidarische Verteilung der Flüchtlingsströme innerhalb der EU: Das ist eine große, ernste Prüfung für das gemeinsame Europa.

Wie schwer wird die Integration
der Flüchtlinge?

Nahles: Wir schaffen das, wenn wir es jetzt richtig anpacken. Nichts wird von allein gut. Es wird Zeit brauchen. Wir bieten den Menschen viel in einem friedlichen, demokratischen Land. Aber wir erwarten auch, dass sie sich von Anfang an ins Zeug legen und sich an die Regeln halten. Wenn das der Deal ist, kann es gut funktionieren. Dafür müssen wir jetzt aber klare Regeln setzen. Wir brauchen nicht ein Asylpaket III, sondern ein Integrationsfördergesetz. Wir haben ja nicht nur über eine Million Flüchtlinge, sondern auch über eine Million Langzeitarbeitslose. Ich werde nicht zulassen, dass die beiden Gruppen gegeneinander ausgespielt werden.

Wo sehen Sie die Gefahr?

Nahles: Aus dem laufenden Haushalt meines Ressorts für Arbeitsmarktpolitik sind die zusätzlichen Aufgaben nicht zu bewältigen. Wir können das Geld nicht bei den Langzeitarbeitslosen wegnehmen. Sonst entsteht ein Verdrängungswettbewerb, der Ängste schürt, statt sie abzubauen. Wir brauchen deshalb zusätzliche Gelder für die Integration der Flüchtlinge.

Wofür wollen Sie die Mittel?

Nahles: Ich möchte zum Beispiel 100.000 Arbeitsgelegenheiten für Flüchtlinge schaffen. Bisher sitzen die Menschen manchmal zwölf Monate herum, ohne etwas tun zu können. Das löst auf allen Seiten Spannungen aus. Wir müssen so früh wie möglich ansetzen, das kann ich aber nur mit Unterstützung des Finanzministers. Es geht hier um 450 Millionen Euro zusätzlich im Jahr. Und außerdem um Geld für andere Integrationsmaßnahmen wie ausbildungs­begleitende Hilfen.

Sie brauchen das Extra-Geld vom Finanzminister im laufenden Haushalt, nicht erst 2017 …

Nahles: Die Verhandlungen laufen ja jetzt schon und für das kommende Jahr. Klar ist: zum Nulltarif können wir die Flüchtlinge nicht integrieren.

Ist es denn realistisch, Hunderttausende Flüchtlinge in Arbeit zu bekommen?

Nahles: Wir haben knapp eine Million offene Stellen. Wenn wir die Menschen in sozialversicherungspflichtige Jobs bringen, können wir einen Teil der demografischen Probleme lösen. Die Flüchtlinge sind sehr motiviert und jung: 70 Prozent sind unter 30 Jahre alt. Zurzeit haben wir Fachkräftemangel, die Chancen auf einen Job sind also gut. Aber die Arbeitsmarktintegration passiert nicht von allein und klappt nur, wenn es dafür die nötigen Mittel gibt.

Die Bundesagentur für Arbeit schätzt, dass 350.000 Menschen im Jahr vermittelt werden können. Die anderen werden erstmal Hartz-IV-Empfänger?

Nahles: Wie viele dieser Menschen tatsächlich schnell integrierbar sind, können wir nicht verlässlich voraussagen. Wir rechnen in diesem Jahr mit 270.000 Menschen mehr, die Leistungen nach SGB II beziehen, davon sind rund 200.000 erwerbsfähig, der Rest sind Kinder oder nicht Erwerbsfähige. Es ist eine große Gruppe, um die wir uns kümmern müssen.

Gibt es genug Integrationsangebote?

Nahles: Nein, die Verfahren dauern einfach zu lang – trotz größter Anstrengungen. Wir müssen das dringend beschleunigen, das ist entscheidend für die Akzeptanz und Motivation. Wir brauchen noch zusätzliche Sprachkurse, Integrationskurse, einfache Arbeitsgelegenheiten und Ausbildungsplätze. Daran arbeiten wir mit Hochdruck. Gleichzeitig müssen wir die Mitarbeiter in den Jobcentern bestmöglich vorbereiten. Deshalb habe ich am 1. März Vertreter aller Jobcenter nach Berlin eingeladen, um mit ihnen zu beraten, wie wir die Aufgabe meistern.

Was muss ins geplante
Integrationsfördergesetz hinein?

Nahles: Wir werden zügig mit den Ministerien einen Entwurf erarbeiten. Es geht einmal ums Fördern: Ich kämpfe seit Monaten darum, dass Flüchtlingen ausbildungsbegleitende Hilfen zur Seite gestellt werden können, wenn nötig. Wir brauchen solche Kümmerer ebenso wie eine assistierte Ausbildung oder berufsvorbereitende Maßnahmen.

Was ist noch geplant?

Nahles: Wir müssen auch andere Hürden abräumen, damit die Flüchtlinge möglichst früh in die Arbeitskultur hineinkommen. Es muss zum Beispiel möglich sein, parallel Sprachkurse und Praxiserprobung in Betrieben zu absolvieren, auch gegen diese Gesetzesänderung gibt es Widerstand.

Was müssen die Flüchtlinge leisten?

Nahles: Wir haben im Hartz-IV-System eine klare Logik: Wer eine Eingliederungsvereinbarung nicht einhält, etwa einen Sprachkurs nicht besucht, dem wird als Sanktion die Leistung gekürzt. Das müssen wir jetzt auch auf Flüchtlinge übertragen, die vereinbarte Integrationsangebote nicht wahrnehmen, aber noch nicht im Hartz-IV-System sind. Im Asylbewerberleistungsgesetz haben wir bisher keine Sanktionsmöglichkeit.

Schließen Sie Steuererhöhungen zur
Finanzierung der Flüchtlingskrise kategorisch aus?

Nahles: Ja, definitiv. Angesichts des Milliarden-Überschusses im Bundeshaushalt haben wir keinen Anlass, über Steuererhöhungen zu reden.

Aber es war doch gerade Ihr Finanzminister, der eine höhere Mineralölsteuer vorgeschlagen hat …

Nahles: Der Vorschlag war nur ein Glühwürmchen am politischen Himmel.

Eine Frage an die SPD-Politikerin
Nahles …

Nahles: … aber ich habe kein einziges Parteiamt mehr …

... trotzdem wissen Sie, dass die SPD bei den Landtagswahlen auf deftige Niederlagen zusteuert.

Nahles: Nein, das sehe ich anders: Die SPD in meinem Bundesland Rheinland-Pfalz liegt in Umfragen bei 32 Prozent, sie regiert und hat Rückenwind, sie legt zu. Die Situation in Rheinland-Pfalz ist offen – und damit auch die Gesamtbilanz am Wahlabend.

Die AfD wird am 13. März wohl doch in die drei Landtage einziehen. Was haben die etablierten Parteien falsch gemacht?

Nahles: Es stimmt, die Lage ist nicht einfach. Die AfD hat das Klima der politischen Auseinandersetzung bis weit in die gesellschaftliche Mitte hinein verändert und verroht. Der Erfolg der AfD ist eine Mischung aus Panikmache, Angst und latenter Stimmung, die immer schon da war. Aber im Vergleich zu anderen EU-Ländern ist Deutschland in einer sehr stabilen Situation.

Wie ist Ihre Strategie im Umgang mit der AfD? Ausgrenzen oder harte inhaltliche Auseinandersetzung?

Nahles: Da gibt es kein Entweder-Oder. Beides ist möglich. Die inhaltliche Auseinandersetzung ist wichtig, aber in Talkshows fast unmöglich, weil die Protagonisten dort selten ihr wahres Gesicht zeigen. Auch die, die man erreichen möchte, trifft man dort ebenso wenig. Es ist eine Bewegung – zum großen Teil im Netz und den sozialen Medien –, die sich komplett abkapselt und Realitäten ausblendet. Dem Hass und der Hetze müssen wir alle entschieden entgegentreten, wo es nur geht.