Berlin. Entwicklungsminister Gerd Müller präsentiert eine neue Initiative zur Linderung der Flüchtlingskrise. Im Zentrum steht eine Beschäftigungsoffensive

Wer ihn reden hört, mag sich wundern, dass er der Partei von Horst Seehofer angehört. Gerd Müller, Entwicklungsminister und CSU-Politiker, liegt in der Flüchtlingskrise eher auf der Linie von Kanzlerin Angela Merkel. Ein Gespräch in unserer Berliner Zentralredaktion.

Hamburger Abendblatt: Herr Minister, kann Entwicklungshilfe verhindern, dass sich immer mehr Menschen auf den Weg nach Deutschland machen?

Gerd Müller: Wenn wir der Entwicklungszusammenarbeit eine neue Dimension geben – ja. Mit zehn Milliarden Euro könnten wir rund um Syrien für Millionen Menschen eine Lebensperspektive schaffen. Wir machen hier schon viel, haben Wohnraum für Hunderttausende geschaffen, Schulen und Gesundheitszentren gebaut, aber hier muss noch viel mehr geschehen, damit die Menschen eine Lebensperspektive in der Region haben. Deshalb haben wir ein Zehn-Punkte-Programm erarbeitet, für das wir jetzt um Unterstützung werben. Im Zentrum steht eine Beschäftigungsoffensive für den Nahen Osten . . .

. . . die wie aussehen soll?

Müller: Deutschland wird bei der internationalen Syrien-Konferenz Anfang Februar in London eine Art Bündnis für Arbeit unter der Überschrift „Cash for Work“ vorschlagen. Wir wollen 500.000 Arbeitsplätze für Flüchtlinge in Jordanien, dem Libanon und der Türkei schaffen. Syrische Maurer etwa können Unterkünfte in regionalen Flüchtlingscamps bauen, Lehrer können Unterricht geben, Krankenschwestern in Gesundheitsstationen arbeiten – für 300 Euro im Monat, davon können dort ganze Familien leben. Mit unserer Beschäftigungsoffensive schaffen wir es, dass die Flüchtlinge sich selbst versorgen. Ich hoffe, dass wir dieses Programm bald auf befriedete Gebiete im Irak und auch in Syrien ausdehnen können. Die Menschen kommen nicht zu uns, wenn sie zu Hause eine Perspektive haben.

Was kostet dieses Bündnis für Arbeit?

Müller: Insgesamt zwei Milliarden Euro für 500.000 Menschen. Aus meinem Etat gebe ich eine Anschubfinanzierung von 200 Millionen Euro. Bis zur Konferenz in London hoffen wir, möglichst viele internationale Geber von dem Programm zu begeistern. Mein Ministerium kann mit der Umsetzung schnell beginnen, Infrastruktur für die Flüchtlinge in der Region zu schaffen. Für dieses Programm möchte ich auch die Kommunen bei uns gewinnen.

Leisten die Städte und Gemeinden nicht schon genug?

Müller: Es geht um das Know-how. Deutsche Kommunen beherrschen alles, was Städte und Gemeinden dort an Infrastruktur benötigen. Sie können Schulen einrichten, Abfall entsorgen, Trinkwasser aufbereiten. Schon heute engagieren sich 400 deutsche Kommunen in kommunalen Partnerschaften weltweit. Wir wollen daraus 1000 Partnerschaften machen – und haben die Förderung in diesem Jahr deshalb auf 14 Millionen Euro verdoppelt. Jeder Bürgermeister, der bei mir anruft, bekommt eine Partnergemeinde.

Immer mehr Menschen kommen aus Nordafrika nach Deutschland – die meisten ohne Bleibeperspektive. Wirtschaftsminister Gabriel droht den Regierungen dort mit der Kürzung der Entwicklungshilfe, sollten sie ihre Staatsbürger nicht wieder aufnehmen . . .

Müller: Es werden in diesen Tagen viele schnelle Vorschläge in die Diskussion geworfen. Eine Kürzung der Entwicklungszusammenarbeit würde zu noch mehr Perspektivlosigkeit in Nordafrika führen. Soll ich unsere Bildungsprojekte in Ägypten einfrieren oder unsere Beteiligung am größten Solarkraftwerk der Welt in Marokko? Wenn wir den Menschen nicht in der Region Bleibeperspektiven eröffnen, kommen Millionen zu uns. Wir müssen im Gegenteil unsere Wirtschaftspartnerschaften ausbauen.

Gabriel ist auch zuständig für die Genehmigung von Rüstungsexporten. Handelt der Wirtschaftsminister so zurückhaltend, wie er behauptet?

Müller: Die Bundesregierung handelt hier in jedem einzelnen Fall sehr verantwortlich. Nach meiner Auffassung müssen wir aber die Themen Abrüstung und Rüstungskontrolle weltweit wieder verstärkt auf die Tagesordnung nehmen. Da waren wir vor zehn Jahren weiter. Ich sehe mit großer Sorge die ausufernde Verbreitung von Waffen.

Kanzlerin Merkel setzt – wie Sie – auf die Bekämpfung der Fluchtursachen. Liegt sie mit ihrer Politik so falsch, wie CSU-Chef Seehofer glauben machen will?

Müller: Bayern hat die größte Last bei der Aufnahme der Flüchtlinge zu tragen und damit den größten Druck. Deshalb ringen wir mit der Kanzlerin um den besten Weg. Unbestritten ist, dass wir in den Regionen rund um Syrien, wo Millionen nun schon seit Jahren auf ein besseres Leben warten, Perspektiven schaffen müssen. Wir brauchen auch Programme, die es syrischen Flüchtlingen bei uns ermöglichen, nach Ende des Krieges wieder in ihre Heimat zurückzukehren und beim Wiederaufbau zu helfen. Nach dem Jugoslawienkrieg sind zwei Drittel der Geflüchteten zurück in ihre Heimat gegangen. Ich gehe davon aus, dass dies auch bei den syrischen Flüchtlingen der Fall sein wird.

Dann kann sich Deutschland ja Obergrenzen sparen.

Müller: Wir müssen die Flüchtlingskrise europäisch bewältigen. Klar ist dabei: Eine weitere Million in diesem Jahr könnten wir nicht integrieren.

Sondern nur 200.000?

Müller: Mich interessieren die Millionen Menschen, die rund um Syrien und in Syrien keinen Ausweg sehen. Meine Arbeit ist vor Ort zu leisten, darauf konzentriere ich mich. Daneben müssen wir den Versuch machen, jetzt eine europäische Lösung hinzubekommen.

Wird sie gelingen?

Müller: Es ist beschämend, dass sich Osteuropäer, Franzosen und andere aus der europäischen Solidarität herauslösen. Europa muss handlungsfähig werden bei einer Herausforderung, die einer europäischen Antwort bedarf. Kommissionspräsident Juncker muss die Flüchtlingskrise endlich zur Chefsache machen. Wir brauchen einen europäischen Hilfsfonds. Wenn Polen und Franzosen nicht bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen, müssen sie zum Ausgleich in diesen Fonds einzahlen.

Die CSU-Regierung in Bayern droht der unionsgeführten Bundesregierung mit einer Verfassungsklage, falls sie in der Flüchtlingskrise nicht umsteuert. Ist das ernst gemeint?

Müller: Das müssen Sie Herrn Ministerpräsident Seehofer fragen.

Welche Zukunft hätte eine Bundesregierung, in der die CSU die Kanzlerin verklagt?

Müller: Wir haben die schwierigste Zeit seit der Wiedervereinigung zu meistern. Da macht es sich keiner einfach. Das können Sie mir glauben. Für mich als CSU-Minister steht natürlich außer Frage, dass ich in der Bundesregierung mehr bewegen kann als außerhalb.