Berlin. Der IS-Terror erreichte dieses Jahr Europa, in Deutschland steigt die Zahl der Salafisten. Worin liegt die Anziehungskraft der Ideologie? Eine Spurensuche

Christian Unger

Als Erstes verschwand der Alkohol aus Ahmads Leben. Als Teenager hatte er die Nächte durchgefeiert, laute Musik gehört. Das sei „haram“, erzählte der junge Mann nun seiner Mutter: verboten nach den Gesetzen des Islam. Die Mutter dachte sich: Beten statt Partys – was kann daran schlecht sein? So fing das an, die ersten Anzeichen einer Radikalisierung. Monate später zog Ahmad los aus einer deutschen Großstadt Richtung Syrien.

In den Monaten vor der Ausreise hat Ahmads Biografie viele Brüche erlebt. Er hüllte sein Gesicht in einen Bart und seine Sprache in religiöse Frömmigkeit. Er brach die Schule ab, er brach mit alten Freunden und fand neue in einer Moschee, die auch Salafisten-Prediger einlädt. Er verteilte den Koran in der Stadt. Irgendwann sprach er vom Dschihad.

Seit anderthalb Jahren ist Ahmad schon in Syrien. Was er dort erlebt, weiß die Familie nicht genau. Eigentlich nur, dass er noch lebt. Doch das ist im Moment die wichtigste Nachricht.

Vieles deutet darauf, dass sich Ahmad in Syrien islamistischen Gruppen angeschlossen hat. Vielleicht der des selbst ernannten „Islamischen Staates“. 2015 war das Jahr, in dem der Terror der Miliz Europa erreichte. Ahmad könnte auch Anton heißen, oder Sava. Seine Biografie ist eine von ungefähr 780 Dschihadisten in Deutschland. Alle kommen aus der sogenannten Salafisten-Szene. Verfassungsschützer sprechen inzwischen von über 8000 in Deutschland, das sind mehr als doppelt so viele wie 2011. Nicht alle sind potenzielle Dschihadisten, nicht einmal alle sind politisch. Doch geht von einzelnen Gefahr aus. Auch Terrorgefahr.

Wer sind diese jungen Menschen? Verfassungsschutz, Bundeskriminalamt und das Hessische Kompetenzzentrum gegen Extremismus haben die Biografien von 670 Radikalislamisten untersucht. Die nicht öffentliche Analyse liegt dieser Zeitung vor. Danach ist der typische deutsche Dschihadist meist männlich (79 Prozent), er lebt in Großstädten oder städtischen Ballungsräumen (89 Prozent) und ist zwischen 19 und 30 Jahren alt. 114 der untersuchten Fälle waren Konvertiten. Die These, dass es sich bei Dschihadisten in der Regel um Schulversager handelt, stützt die Untersuchung, mindestens auf den ersten Blick, nicht. Ein Viertel von ihnen besuchte ein Gymnasium. Doch haben auffallend viele ihre Ausbildung oder ein Studium abgebrochen, sind im Bildungssystem gescheitert. 145 Personen waren arbeitslos.

Fast 65 Prozent der selbst ernannten „Gotteskrieger“ traten zudem vor ihrer Ausreise als Kriminelle in Erscheinung. Körperverletzungen, Einbruch, Raub, illegaler Drogenhandel – ein tugendhaftes Leben, wie es Islamisten-Propaganda anpreist, gehört nicht zu den Stärken der Dschihadisten. Dafür aber bei einigen Drohungen und Gewaltfantasien.

Vor Kurzem war es wieder so weit. Ferid Heider hatte in einem Eintrag auf Facebook gerade die Terroranschläge von Paris verurteilt – und schon beschimpfte ein Nutzer den Berliner Imam als „dreckigen Bruder des Teufels“ und als „dummen Demokraten“. Heider ist kein Liberaler. Er ist nah dran an der reinen Koranlehre, so mancher Beobachter rückte ihn bis vor wenigen Jahren in die Nähe von Fundamentalisten. Er selbst bezeichnet sich als konservativ. Keinen Zweifel lässt Heider daran, dass er Hass auf Andersgläubige und Gewalt im Namen der Religion ablehnt.

In jedem Fall: Heider gilt als eine Art Jugend-Imam. Er weiß, was Jugendliche an der islamistischen Bewegung fasziniert. Und Heider sagt, dass die Jugendlichen gar nicht an einer ernsthaften Nähe zur Religion interessiert seien. Die scheinbar religiösen Argumente der Dschihadisten seien nur vorgeschoben. Manche sprechen deshalb vom „Pop-Dschihad“ – weil es mehr Jugendkultur ist als Religion. So verehrt die Szene etwa den Ex-Rapper Deso Dogg als Ikone. Schweigen will Imam Heider dennoch nicht. „Wenn Menschen morden und ihre Taten explizit mit dem Islam rechtfertigen, missbrauchen sie unsere Religion. Als Muslime müssen wir uns dagegen wehren und eindeutig Stellung beziehen.“

Doch für die muslimischen Verbände gibt es ein Problem. In den Moscheen seien die Radikalen nur selten zu sehen, sagt Heider. Die Szene hat eigene Treffpunkte: Koranstände in der Innenstadt, Privatwohnungen, Internetforen, Apps auf dem Handy, aber auch einzelne Moscheen, die nicht in den großen Verbänden organisiert sind. Das macht Prävention schwieriger.

Was aber fasziniert Jugendliche an dieser Ideologie? Claudia Dantschke ist studierte Arabistin und versucht, junge Frauen und Männer von der Reise in den „Heiligen Krieg“ abzuhalten – vor allem berät sie Eltern. Dantschke leitet die Beratungsstelle Hayat (Leben) des Berliner Zentrums Demokratische Kultur und ist gefragte Islamismusexpertin. Ihre Fälle kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Eines hätten sie aber alle gemeinsam: „Es sind religiöse Analphabeten, die in irgendeiner Form nicht mit ihrem Leben zurechtkommen.“ Viele kämen aus schwierigen Familienverhältnissen, fast immer gebe es in den Biografien Brüche, fast immer sei irgendetwas gründlich schief gelaufen. Die ach so stolzen Gotteskrieger – oft sind es labile Charaktere. Ihr Alltag ist kompliziert, oft von Ausgrenzung als Muslim geprägt, und die pseudoreligiöse Ideologie bietet ihnen für ihre weltlichen Probleme scheinbar einfache Lösungen an. Islamisten zeigen ihnen eine Vision auf, die vom „Islamischen Staat“. So wie Neonazis vom „neuen deutschen Reich“ träumen. „Die Verherrlichung des Dschihad ist oft eher ein Ventil, um eine merkwürdige Art von Abenteuerlust und übersteigerte Männlichkeitsfantasien auszuleben und Frust abzubauen“, sagt Dantschke. Die Salafisten bieten jungen Menschen dann das, was sie woanders – etwa in der Familie oder der Gesellschaft – nicht finden: Identität, das Gefühl von Gemeinschaft, eine neue Lebensordnung in „Wir“ und „Die“. Eine Schicksalsgemeinschaft.

Die Familie ist für Dschihadisten oft der letzte Kontakt nach Deutschland

Salafismus ist für junge Menschen eine radikale Subkultur. Eine Provokation. Und der Terror des IS ist eine große Provokation. Dantschke sagt, die Anziehungskraft des IS habe eine unvorstellbare Sogwirkung entfaltet. Oft würden Jugendliche durch ehemalige Freunde angeworben, die sich bereits dem IS angeschlossen haben. Der Trip in den Dschihad sei „cool“ geworden, die bis dahin übliche Ideologisierung nur noch rudimentär. Radikalisierung verlaufe viel schneller. „In solchen Fällen ist es besonders schwierig, frühzeitig zu bemerken, sodass man eingreifen kann“, sagt Dantschke.

Deshalb gehört für manche zum Kampf gegen Salafisten auch der Kampf gegen den IS. Doch was ist eine Strategie gegen Islamisten abseits von Polizei und Militär? Der Hamburger Pädagoge Kurt Edler hat ein Buch geschrieben – einen Leitfaden für Prävention im Klassenzimmer. Und dort fehle es bei den Lehrern noch immer an Wissen über den Islam. „An manchen Schulen sind 70 Prozent der Kinder Muslime. Aber geredet wird im Unterricht nur über Weihnachten und nicht Ramadan“, sagt Edler. Es brauche jedoch auch eine klare Haltung des Lehrers zur Demokratie. „Wenn ein radikalisierter Schüler die Grundrechte infrage stellt, muss ich sie als Lehrer verteidigen können.“ Mit Überzeugungskraft und Argumenten. Nur so weckt er Zweifel an einer Ideologie. Dafür brauche es mehr politische Bildung – auch bei Mathe- oder Chemielehrern.

Doch Experten sehen auch Aufklärungsbedarf bei Jugendlichen. Sie müssten mehr wissen über Islamismus und die Propaganda. Denn sie sollen darüber reden – auch mit ihren Freunden, die vom Salafismus schwärmen. „Peer-to-Peer-Prävention“ nennen das Pädagogen. Denn was Freunde sagen, zählt für manche Jugendliche mehr als das, was Eltern oder Lehrer erzählen.

Wenn Claudia Dantschkes Telefon klingelt, melden sich oft besorgte Eltern, deren Kinder in Syrien sind. Mittlerweile gibt es in Deutschland mehrere Beratungsstellen, die Hayat vergleichbar sind. Sie spricht mit Eltern die Telefonate mit ihren Kindern in der Ferne ab, entwickelt je nach Fall Gesprächsstrategien. Nicht jeder Salafist wird zum Terrorist. Viele sind enttäuscht vom IS, traumatisiert vom Krieg. Dantschke animiert Eltern im Gespräch mit den Kindern zum Zuhören und Verstehen statt zur Wut. Nur so werde ein zerstörtes Verhältnis gekittet – oft ist es die letzte Chance, ein Kind zur Rückkehr zu bewegen.