Ankara.

Am Tag nach dem Abschuss des russischen Bombers versucht der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, die russischen Gemüter zu beschwichtigen. „Wir denken definitiv nicht an so etwas wie eine Eskalation dieses Zwischenfalls“, sagte er in Istanbul und fügte hinzu: „Wir verteidigen nur unsere eigene Sicherheit und das Recht unserer Brüder.“

Tatsächlich offenbart der Abschuss des russischen Bombers durch türkische Kampfflugzeuge: Syrien wird immer mehr Schauplatz eines Stellvertreterkrieges. Geldgeber aus Golfstaaten finanzieren die Terrormiliz des sogenannten „Islamischen Staats“ (IS). Die USA und Frankreich, möglicherweise demnächst auch Großbritannien, fliegen Luftangriffe auf die Dschihadisten. Der Iran steht an der Seite des Assad-Regimes. Auch Russland stützt Assad.

Moskau hat zwar öffentlich den IS zum Hauptfeind erklärt, erst recht nach dem Bombenanschlag auf den russischen Urlauberjet über dem Sinai. Aber die Angriffe der russischen Kampfflugzeuge richten sich keineswegs nur gegen die Terrormiliz, sondern gegen Oppositionsgruppen wie die syrischen Turkmenen nahe der Grenze zur Türkei, wo es am Dienstag zu dem Abschuss kam.

Die Motivation der Türkei in diesem Konflikt ist undurchsichtig. Recep Tayyip Erdogan feierte als türkischer Premierminister noch vor wenigen Jahren den syrischen Despoten Assad als seinen „Bruder“. Doch seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs arbeitet Erdogan auf den Sturz Assads hin. Dabei scheint er auch vor zweifelhaften Allianzen nicht zurückzuschrecken. Oppositionspolitiker in Ankara glauben Beweise zu haben, dass der türkische Geheimdienst in den vergangenen Jahren islamistische Rebellen in Syrien mit Waffen und Munition belieferte – möglicherweise auch den IS.

Kämpfer der Terrormiliz konnten sich an der Grenze frei bewegen und die Südosttürkei als Rückzugsraum nutzen. Verwundete Dschihadisten wurden in staatlichen türkischen Kliniken verarztet. Darauf dürfte der russische Präsident Wladimir Putin angespielt haben, als er jetzt anlässlich des Abschusses des russischen Kampfjets sagte, die Türkei habe sich zum „Handlanger von Terroristen“ gemacht. Tatsächlich scheint man die Gefahr, die vom IS ausgeht, in Ankara lange unterschätzt oder verharmlost zu haben. Erst mit den Selbstmordattentaten, bei denen mutmaßliche IS-Kämpfer in den vergangenen Monaten in der Türkei mehr als 130 Menschen in den Tod rissen, hat offenbar ein Umdenken eingesetzt.

Nun fordert Erdogan die Schaffung einer „von Terroristen gesäuberten“ Schutzzone auf der syrischen Seite der Grenze. In diesem etwa 100 Kilometer langen und 40 Kilometer breiten Streifen sollen syrische Bürgerkriegsflüchtlinge versorgt werden, die dann nicht mehr die Grenze zur Türkei überqueren müssten – ein Plan, der angesichts der Flüchtlingskrise auch in der EU Anhänger hat.

Erdogan verbindet mit dem Vorschlag aber einen Hintergedanken. Wenn er von „Terroristen“ spricht, meint er nicht nur den IS, sondern auch die syrischen Kurden der Demokratischen Unionspartei (PYD) und ihren militärischen Flügel YPG. Diese Milizen sind äußerst erfolgreich im Kampf gegen den IS. Sie streben jedoch eine kurdische Autonomiezone im Norden Syriens an der Grenze zur Türkei an, und das will Ankara um jeden Preis verhindern. Ein Mittel dazu soll die besagte Schutzzone sein.

Die ohnehin explosive Gemengelage in Syrien ist durch den Abschuss des russischen Jets noch gefährlicher geworden. Ob sich das Flugzeug tatsächlich im türkischen Luftraum befand, ist strittig und letztlich auch nicht entscheidend. Denn solche unbeabsichtigten Luftraumverletzungen kommen bei den sehr schnell fliegenden Kampfjets häufig vor, ohne dass deshalb scharf geschossen wird.

Vieles spricht außerdem dafür, dass die türkischen Militärs, die den Befehl zum Abschuss gaben, möglicherweise glaubten, ein syrisches Flugzeug vor sich zu haben. Auch die syrische Luftwaffe fliegt Suchoi-Bomber. Erdogan bestätigte jedenfalls am Mittwoch, erst nach dem Abschuss habe sich herausgestellt, dass es sich um einen russischen Jet handelte. Das klang fast wie eine Entschuldigung.

Um Beschwichtigung geht es auch den USA. So hat US-Präsident Barack Obama zunächst dem Nato-Partner Türkei den Rücken gestärkt und – so die Mitteilung des Weißen Hauses – in einem Telefonat mit Erdogan gesagt, die Türkei habe aus Sicht der USA und der Nato das Recht, ihre Souveränität zu verteidigen. Zugleich stimmte er mit Erdogan überein, dass die Lage nicht eskalieren dürfe. Es müssten Vorkehrungen getroffen werden, damit sich solch ein Vorfall nicht wiederhole.

Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg mahnte Ruhe und Diplomatie an. „Dies ist eine ernste Situation“, sagte Stoltenberg der Wochenzeitung „Die Zeit“. „Unser gemeinsamer Feind sollte der Islamische Staat sein. Es ist wichtig, dass uns alle, einschließlich Russland, das übergreifende Ziel leitet, den IS zu besiegen“, so Stoltenberg.