Berlin.

Wolfgang Schäuble sitzt seit 1972 im Bundestag – und er hat es wie kaum ein anderer drauf, die Dinge zu seinen Gunsten zu verdrehen. Anja Hajduk von den Grünen wirft ihm in der Haushaltsdebatte vor, nur auf Sicht zu fahren. Der Bundesfinanzminister müsse doch viel mehr Geld für die Integration von Flüchtlingen bereitstellen, sagt Hajduk.

Doch Schäuble fühlt sich nicht angegriffen. Er empfinde die Äußerung als Kompliment, sagt er. Er räumt ein, dass die Regierung „ein bisschen auf Sicht“ fahre. So könne man immer noch auf die Realität reagieren. Wer in der Geschichte starr an seinem Plan festgehalten habe, sei oft gescheitert – womit er unter anderem auf die Sowjetunion anspielt. „Die, die auf Sicht fahren, haben der Menschheit sehr viel mehr Gutes ermöglicht.“ Als Bundestagspräsident Norbert Lammert ihn fragt, ob er eine Zwischenfrage der Abgeordneten Hajduk zulasse, sagt Schäuble leicht gönnerhaft: „Aber bitte, natürlich.“

Die Haushaltsdebatte im Bundestag ist immer auch Generalabrechnung. Es geht nicht nur um den Etat des Bundes, der 2016 bei 316,9 Milliarden Euro liegt. Doch in Zeiten der großen Koalition fällt dieser ziemlich mau aus. Die Union lobt Schäuble. Carsten Körber (CDU) sagt „herzlich Danke“ für die soliden Finanzen. Und die SPD freut sich über die gute Zusammenarbeit mit der Union – wobei Johannes Kahrs, Chef des wirtschaftsnahen Seeheimer Kreises in der SPD, die finanzpolitischen Spielräume auf die „erfolgreiche Zeit“ unter Gerhard Schröder zurückführt.

Die kurzen Auftritte der Oppositionspolitiker sind meist kaum der Rede wert. Gesine Lötzsch von der Linken regt sich vor allem über die „boshaften Formulierungen“ Schäubles auf, der die Flüchtlingskrise vor zwei Wochen mit einer Lawine verglichen hatte. Struktur hat einzig die Rede des grünen Haushaltsexperten Tobias Lindner, der der Koalition vorwirft: „Sie hecheln der ,schwarzen Null‘ hinterher.“

Schäuble ist gut drauf an diesem Dienstagmorgen. Seine „schwarze Null“, also der Haushalt ohne neue Schulden trotz Flüchtlingskrise, steht auch für 2016. Er lacht nach seiner Rede mit seinem Kabinettskollegen Alexander Dobrindt von der CSU. Amüsiert sich über Lothar Binding (SPD), der Steuerschlupflöcher aufzählt – und für jedes mit einem Schraubenzieher ein Loch in einen Pappbecher bohrt.

Wolfgang Schäuble, 73 Jahre alt, erlebt in diesem Jahr einen späten Höhepunkt seiner Karriere. Der Mann, der der ewige Zweite hinter Kanzler Helmut Kohl war und dann in der CDU-Spendenaffäre von Merkel überholt wurde, bekommt so viel Aufmerksamkeit wie schon lange nicht mehr. Im Sommer gab er den harten Hund in den Verhandlungen mit dem überschuldeten Griechenland. Das brachte ihm viel Zustimmung in der Unionsfraktion. In der Flüchtlingsfrage hat er sich rechts von Merkel positioniert. Er gibt den Realisten, während viele in der Union die Kanzlerin für abgehoben halten, weil sie keine Obergrenze für Flüchtlinge einziehen will. Schäuble gilt sogar als Ersatzkanzler. Das liegt auch daran, dass die eigentlichen Kronprinzen der Kanzlerin gerade straucheln. Innenminister Thomas de Maizière macht in der Flüchtlingskrise und nach dem Terror von Paris mindestens eine unglückliche Figur. Er ist mehr als angeschlagen. Und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen muss erst mal abwarten, ob die Universität Hannover ihr den Doktortitel aberkennt.

In den Zeitungen wird spekuliert, ob Schäuble die Kanzlerin stürzen will. Und der Finanzminister spielt damit. „Adenauer war bei Amtsantritt 73 Jahre alt“, sagte der 73-jährige Schäuble vor Kurzem auf die Frage, ob er in seinem Alter noch in der Lage wäre, Kanzler zu sein. Das kann alles Mögliche heißen – oder gar nichts. Wolfgang Schäuble fährt eben gern auf Sicht.