Hamburg. Helmut Schmidt prägte die bundesdeutsche Politik wie kaum ein anderer. Bis zum Schluss war er als „Elder Statesman“ präsent.

Seinen politischen Einfluss hat Helmut Schmidt bis ins hohe Alter bewahrt. Zahlreiche Spitzenpolitiker, vor allem von der SPD, holten sich in den vergangenen Jahren Rat beim Altkanzler. In seinen letzten Lebensjahren fiel dem starken Raucher das Gehen und Hören allerdings zusehends schwerer. Zuletzt war Schmidt im September wegen eines Blutgerinnsels am Bein operiert worden. Geistig und politisch aber blieb der fünfte Kanzler der Bundesrepublik auch mehr als 30 Jahre nach seinem Sturz als respektierter „Elder Statesman“ präsent, oft mehr geachtet als geliebt. Nur wenige Politiker standen so sehr für die Geschichte der „alten“ Bundesrepublik wie Schmidt, der am Dienstag im Alter von 96 Jahren starb.

Von Schmidts politischer Laufbahn dürften vor allem zwei Bilder im Gedächtnis der Republik bleiben: Der junge, agile Hamburger Innensenator, der in der Sturmflut-Katastrophe vom März 1962 seinen Ruf als Krisenmanager erwarb. Und der würdevolle Staatsmann, der am 1. Oktober 1982 Helmut Kohl gratuliert, der ihn soeben per Misstrauensvotum als Kanzler gestürzt hatte.

Kanzler während RAF-Terror und Nato-Nachrüstung

Dazwischen lagen zwei Jahrzehnte, in denen der Hamburger die bundesdeutsche Politik prägte. In seine Amtszeit als Bundeskanzler zwischen 1974 bis 1982 fällt der „deutsche Herbst“ mit der Entführung und Ermordung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer durch Mitglieder der Rote Armee Fraktion (RAF) 1977 und die Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“, die mit der spektakulären Geiselbefreiung auf dem Flughafen in Mogadischu durch die Spezialeinheit GSG 9 endete. Das Ende seiner Kanzlerschaft war geprägt von heftigem Streit in der sozial-liberalen Koalition über den wirtschaftspolitischen Kurs sowie die Diskussion über den Nato-Nachrüstungsbeschluss für Mittelstreckenraketen, in der Schmidt zusehends an Rückhalt in der eigenen Partei verlor.

Wegen seiner Kenntnis globaler wirtschaftspolitischer Zusammenhänge wurde Schmidt in den Medien als „Weltökonom“ bezeichnet. Sein Spitzname „Schmidt-Schnauze“, den er bei politischen Gegnern hatte, geht auf den Anfang seiner Karriere im Bundestag als Militärexperte der SPD zurück, wo er sich heftige Wortgefechte mit dem damaligen Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß (CSU) lieferte.

Wichtige Stationen im Leben von Helmut Schmidt


1918: Am 23. Dezember wird Helmut Heinrich Schmidt als Sohn eines Volksschullehrers in Hamburg-Barmbek geboren


1939-1945: Soldat im Zweiten Weltkrieg


1942: Heirat mit seiner früheren Klassenkameradin Hannelore (Loki) Glaser


1945: Eintritt in die SPD


1962: Als Innensenator in Hamburg macht er sich einen Namen bei der Bewältigung der Flutkatastrophe


 1967-1969: Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion


1969-1972: Verteidigungsminister im ersten Kabinett von Willy Brandt


1972: Finanzminister im zweiten Kabinett Brandt


1974: Wahl zum Bundeskanzler (16. Mai) nach Rücktritt Brandts


1977: Die RAF nimmt Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer als Geisel, im Oktober wird die Lufthansa-Maschine „Landshut“ entführt. Schmidt gibt den Forderungen der Terroristen nicht nach. Schleyer wird ermordet, die Geiseln der „Landshut“ in Mogadischu befreit.


1982: Am 1. Oktober wird Schmidt durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt. Neuer Kanzler wird Helmut Kohl (CDU).


1983: Schmidt wird Mitherausgeber der Wochenzeitung „Die Zeit“


2010: Am 21. Oktober stirbt Loki Schmidt mit 91 Jahren.


2013 April: Die Familie des ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer macht ihren Frieden mit Schmidt. 36 Jahre nach Schleyers Tod verleiht sie Schmidt den Hanns-Martin-Schleyer-Preis


2013: Helmut Schmidt unterstützt vergeblich den ebenfalls aus Hamburg stammenden SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück


2015: Schmidt veröffentlicht das sehr persönliche Buch „Was ich noch sagen wollte“ über Lebenserinnerungen, Wegbegleiter und Vorbilder.


10. November 2015: Helmut Schmidt stirbt mit 96 Jahren in Hamburg.

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1969 wurde Schmidt zunächst selbst Verteidigungsminister im ersten SPD/FDP-Kabinett von Kanzler Willy Brandt. Als Wirtschafts- und Finanzminister Karl Schiller im Zusammenhang mit der Währungskrise im Juli 1972 zurücktrat, wurde Schmidt vorübergehend dessen Nachfolger und übernahm das Finanzressort nach der Bundestagswahl im gleichen Jahr mit erweiterten Kompetenzen.

Guillaume-Affäre brachte Schmidt an die Macht

Die Affäre um den DDR-Agenten Günter Guillaume im Bundeskanzleramt führte im Mai 1974 zum Rücktritt Brandts. Im Anschluss an die Wahl von Walter Scheel zum Bundespräsidenten wurde Schmidt am 16. Mai 1974 zum fünften Kanzler der Bundesrepublik gewählt.

Außenpolitisch versuchte Schmidt Brandts Kurs der Annäherung zwischen Ost und West fortzusetzen, vermied es aber, allzu große Hoffnungen auf eine baldige Entspannung zu wecken. Im westlichen Ausland wurde Schmidt vor allem wegen seiner Wirtschaftskompetenz geschätzt. Oft wurde von ihm mit Blick auf seine guten Kontakte zu dem damaligen französischen Präsidenten Valerie Giscard d’Estaing die Lösung schwieriger Probleme zugetraut. Mit Giscard begründete er die sogenannten Weltwirtschaftsgipfel. Auf Schmidts Initiative geht auch das Europäische Währungssystem (EWS) zurück, das als Vorläufer der Währungsunion gilt.

Mit der Amtsübergabe an seinen Nachfolger Helmut Kohl war Schmidts aktive politische Laufbahn zu Ende. Als Ex-Kanzler blieb er jedoch in der Öffentlichkeit präsent. Sein Nachfolger bekam „Schmidt-Schnauze“ zu spüren, der seit 1983 als Herausgeber der Wochenzeitung „Die Zeit“ die Weltpolitik und die Weltwirtschaft kommentierte. Schmidt lebte in Langenhorn lange mit seiner Ehefrau Hannelore (Loki) zusammen, mit der er bis zu deren Tod 68 Jahre verheiratet war. Die Pädagogin und Botanikerin starb 2010. Zwei Jahre später wurde bekannt, dass Schmidt eine neue Beziehung hatte.

Der zeitliche Abstand ließ auch in der SPD den Respekt für ihren Altkanzler wachsen, dessen Biografie bis in eine Zeit als Flakhelfer im 2. Weltkrieg reichte. Die Wertschätzung für den Altkanzler zeigte sich 1998, als Schmidt Gerhard Schröder beim Leipziger Parteitag seinen Segen gab und mit Wehmut und Respekt gefeiert wurde. Schröder wie Schmidt, ihren beiden letzten Kanzlern, verdankt die SPD den ungeliebten Regierungspragmatismus. Dieser Grundsatz ist bis heute aktuell und wird auch von Sigmar Gabriel als Vize unter Kanzlerin Angela Merkel befolgt. Im Dezember 2011 lag ihm seine SPD zuletzt zu Füßen: In einer mit „Helmut, Helmut“-Rufen bejubelten einstündigen Rede auf dem SPD-Bundesparteitag warnte Schmidt vor einem Rückfall Europas in nationalstaatliche Rivalitäten.