Berlin. Erdogan gilt in der Flüchtlingskrise als unverzichtbarer Partner. Doch nach dem Terrorakt in Ankara werden warnende Stimmen lauter

Michael Backfisch

Nach dem Terroranschlag in Ankara hat die türkische Regierung die EU um eine Verschiebung der Gespräche über die Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise gebeten. Die EU erhofft sich von der Kooperation eine Begrenzung des Flüchtlingsandrangs. Über die Türkei reisten zuletzt Zehntausende Menschen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak in Richtung EU.

Nach Angaben von Diplomaten will Präsident Recep Tayyip Erdogan dafür erreichen, dass die Bürger seines Landes künftig ohne Visa in EU-Länder einreisen dürfen. Zudem fordert er eine Wiederbelebung der EU-Beitrittsverhandlungen, die Einstufung seines Landes als „sicherer Herkunftsstaat“ und ein Einsatz der EU für militärisch gesicherte „Schutzzonen“ an der türkisch-syrischen Grenze.

Doch der aktuelle Anschlag in Ankara mit etlichen Toten macht Europa einen Strich durch die Rechnung – vorerst jedenfalls. Der Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, und Nachbarschaftskommissar Johannes Hahn sagten eine geplante Reise in die Türkei ab. Man hoffe nun auf einen Gesprächstermin am Mittwoch, um in der Debatte um den Umgang mit den fliehenden Menschen weiterzukommen. Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) machte ein Klima des Hasses unter Erdogan für den Anschlag in Ankara mitverantwortlich. „Es kennzeichnet den ganzen Zynismus der europäischen Flüchtlingsabwehrpolitik, wenn diese Türkei zum sicheren Herkunftsland definiert werden soll.“

Selbst Spitzenvertreter der EU drohen indirekt: „Wir stehen an der Seite aller Menschen in der Türkei, die zusammenarbeiten, um Gewalt und Terrorismus zu bekämpfen“, hieß in einer Stellungnahme der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini. Das lässt sich auch als Kritik an Erdogan lesen, der in den vergangenen Wochen wenig Anstalten machte, auf die Kurden zuzugehen. Der CDU-Außenexperte Norbert Röttgen hob dagegen hervor, dass die Türkei „trotz der Eskalation der Gewalt ein Schlüsselland für Europa im Verhältnis zu den Staaten im Nahen Osten und der Lösung der Flüchtlingskrise“ bleibe. „Doch der Dialog wird mit der Zunahme der Gewalt schwieriger“, sagte er dieser Zeitung. Jetzt sei es erst einmal wichtig, dass „sowohl militante Kurden als auch die türkische Regierung der Gewalt abschwören“.

Vor allem die Visafreiheit für Menschen mit türkischem Pass in die EU ist umstritten. In Brüssel wird nun diskutiert, ob in einem ersten Schritt zumindest türkische Geschäftsleute von der Visapflicht befreit werden. Auch in vielen anderen Bereichen gibt es von EU-Mitgliedstaaten zum Teil erhebliche Widerstände. Eine Wiederbelebung der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei lehnen zum Beispiel Griechenland und Zypern wegen territorialer Streitigkeiten mit Ankara ab.

SPD-Außenexperte Niels Annen hält eine Zusammenarbeit trotz der Gewalt für unverzichtbar. „Wir werden den Konflikt in Syrien und die Flüchtlingskrise nicht ohne oder gegen die Türkei lösen.“ Deshalb sei Dialog wichtig – und es sei auch richtig, Verhandlungen zu einem EU-Beitritt weiter zu führen. „Ich bin kein Freund von Erdogan“ sagte Annen. Aber es gebe angesichts der Kriege in Nahost keine Alternative zu einem Dialog mit der Türkei. SPD-Vizefraktionschef Rolf Mützenich sieht derzeit dagegen „keine ernsthafte Diskussion über eine EU-Beitritts-Perspektive für die Türkei“. Auch weil die türkische Regierung daran kein Interesse habe. Es sei zu befürchten, dass der neueste Anschlag zu einem „dramatischen Anstieg der Gewalt in der Türkei führt und die innenpolitischen Auseinandersetzungen weiter befeuert“, sagte Mützenich.

Treffen der Staatschefs diese Woche in Brüssel – auch Erdogan ist dabei

Mützenich ist daher skeptisch, ob Europa die Türkei als sogenannten „sicheren Herkunftsstaat“ einstufen könne. „Die EU muss genau hinschauen. Das ist nicht einfach zu entscheiden.“ Geplant ist, dass Balkanländer wie bereits in Deutschland auch EU-weit als „sicher“ gelten, um Asylbewerber aus diesen Ländern schneller in die Heimat abzuschieben. Zur Debatte steht aber auch, die Türkei mit auf die Liste zu setzen. Ob die Kooperation zwischen EU und Türkei Zukunft hat, dürfte sich beim Treffen der Staats- und Regierungschefs Ende der Woche in Brüssel zeigen. Diplomaten heben hervor, dass Erdogan noch vor der Wahl im November in der Türkei Zugeständnisse der EU sehen will – und dass die EU in der Flüchtlingskrise auf ihn angewiesen ist.