Washington. Der Bundespräsident ist bei seinem ersten Staatsbesuch in den USA sichtlich berührt. Er spricht von „Pilgerreise zu den Geburtsstätten berühmter Ideen“

Joachim Gauck wirkte ergriffen, als sich gestern um kurz nach elf Uhr für ihn ein „Lebenstraum erfüllte“. Im Oval Office des Weißen Hauses fast eine Stunde lang von Präsident Barack Obama im Beisein von Vize Joe Biden und Außenminister John Kerry empfangen zu werden, 25 Jahre nach der Wiedervereinigung, das verlangte dem deutschen Staatsoberhaupt einige Selbstkontrolle ab, um nicht den Gefühlen freien Lauf zu lassen.

Seinen dreitätigen Aufenthalt in Philadelphia und Washington, der gestern Abend mit der Übergabe eines Stücks „Berliner Mauer“ endete, verglich der Bundespräsident mit einer „Pilgerreise zu den Geburtsstätten berühmter Ideen“. Ideen, die die gesamte „Menschheitsgeschichte“ betreffen. Seine Eindrücke müssen nachhaltig gewesen sein: „Alles, was ich hier erlebt habe, war hoch emotional.“

Nach dem fast doppelt so lang wie ursprünglich geplanten Gespräch zeigte sich Gauck erfreut über das „hohe Maß von Wertschätzung und Anerkennung“, das Deutschland und die von der Bundesregierung unter Kanzlerin Merkel verantwortete Politik in der amerikanischen Regierung „ganz unverkennbar genießt“. Obama würdigte demnach ausgiebig das deutsche Engagement in der Ukraine-Krise, beim Anbahnen des Atom-Kompromisses mit dem Iran und bei der Bewältigung der aktuellen Flüchtlingswelle im Nahen Osten.

Befürchtungen, das Amerika sich von Europa abwendet und geopolitische Prioritäten künftig allein im pazifischen Raum setzt, hat Obama laut Gauck zu zerstreuen versucht. „Die transatlantischen Beziehungen sind ein Eckstein der internationalen Sicherheitsordnung“, zitierte Gauck vor dem Weißen Haus den Gastgeber.

Der wiederum würdigte ausführlich Gaucks „wunderbare Rolle“ im Prozess der Deutschen Einheit. Und reagierte mit einem Nicken, als Gauck erklärte, dass Deutschland und Amerika trotz mancher „Missverständnisse“ sehr wohl wüssten, „wie eng wir zueinander gehören“. Dass Gauck sich vorbehaltlos hinter das umstrittene Freihandelsabkommen TTIP stellte („Wir sollten die Öffentlichkeit weiter von den Vorzügen dieses Projekts überzeugen“), dürfte Obama ebenfalls mit Genugtuung registriert haben.

In der weiter schwelenden Affäre um den Geheimdienst NSA will Joachim Gauck bei Obama „zu Teilen“ Verständnis für die Enttäuschung vieler Bürger in Deutschlands ausgemacht haben, die sich überwacht fühlten. Allerdings monierte Gauck ein „Überzeichnen der Gefahren“. Tenor: Amerika ist nicht der Feind in diesem Spiel. Der frühere Pfarrer aus Rostock war der erste Bundespräsident seit 18 Jahren, der im Weißen Haus empfangen wurde. Zuletzt wurde Roman Herzog diese Ehre 1997 beim damaligen US-Staatsoberhaupt Bill Clinton zuteil.

Amerikanische Medien, nach dem erst wenige Tage zurückliegenden Besuch des Papstes und des chinesischen Präsidenten gewissermaßen erschöpft, nahmen von der Visite des deutschen Staatsoberhauptes bisher so gut wie keine Notiz. „Wir wissen, dass Kanzlerin Merkel die Richtlinien der Politik bestimmt – und nicht euer Präsident“, sagte am Vorabend beim Einheitsempfang der Deutschen Botschaft bei Spezialitäten wie Kassler, Rollmops, Maultaschen und Leberkäse ein schmunzelnder Redakteur der „New York Times“.

Auch deshalb begab sich die deutsche Seite selbst in die Spur. In einem Namensartikel in der „Washington Post“, rechtzeitig vor seiner Fahrt im Blaulichtkonvoi ins Weiße Haus erschienen, umriss Gauck das Grundanliegen seiner Reise: Bitte mehr amerikanischen Einsatz in Deutschland und Europa – keinesfalls weniger. „Amerika gewinnt, wenn es sich in Europa engagiert.“ Andernfalls drohe Instabilität. „Ein Europa ohne Amerika wäre ein historischer Rückschritt.“

Beim Dauerbrandherd Syrien wünscht Gauck sich eine klare Führungsrolle der USA. Die plastische Begründung lieferte er zuvor am Ende seiner Rede vor der Universität in Philadelphia: „Die Amerikaner waren ja auch im Nahen Osten aktiv, um Verhältnisse zu verändern, Diktatoren zu stürzen, neue Gesellschaften zu errichten“, sagte er auf die Frage eines Studenten, „und aus diesen Einsätzen heraus sind ja auch Flüchtlingsbewegungen entstanden. Da beißt die Maus keinen Faden ab.“

Im direkten Gespräch mit Obama fielen die Worte entschieden bescheidener aus. Die „schrecklichen Verwicklungen“ in Syrien erforderten mehr gemeinsames Vorgehen, sagte Gauck. Er wünsche sich darum, dass die „große humanitäre Aufgabe“ der Flüchtlingsversorgung nicht nur in Europa, sondern auch in den USA „Betrachtung findet“. Reaktionen? Obama habe ein „sehr klares Bild davon, was Deutschland in der Syrien-Frage leistet“ und mit Nachdruck die „Vorbildrolle Deutschlands in Europa“ gelobt. Nicht mehr. Und nicht weniger.