Tel Aviv. Nach den Anschlägen in Jerusalem eskaliert die Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern. Eine Analyse

Kaum ein Tag in Israel vergeht derzeit ohne Ausschreitungen, Anschläge oder Tote. Erst im Sommer 2014 erlebte seine Bevölkerung schweren Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen, der in die Operation „Protective Edge“ mündete, im Winter dann eine Serie von Attentaten in Jerusalem. Ob die jüngste Gewaltwelle jetzt der Beginn eines neuen Palästinenseraufstands ist, wird sich zeigen. Auch wenn „Yedioth Ahronoth“, die größte Zeitung des Landes, bereits titelte: „Dritte Intifada“.

In der Nacht zum Montag wurde ein 18-jähriger Palästinenser bei Ausschreitungen im Westjordanland durch einen Schuss in die Brust getötet. Vorher hatten hier Hunderte gegen Israel demonstriert und Sicherheitskräfte mit Steinen und Brandbomben attackiert. Am Montag soll ein zwölfjähriger Palästinenser bei Bethlehem durch eine israelische Kugel gestorben sein.

Die israelische Armee und Polizei operieren mit Tränengas, gummiummantelten Geschossen und vereinzelt auch mit scharfer Munition. Hunderte Palästinenser wurden so seit vergangener Woche bei Krawallen in den besetzen Gebieten und Ostjerusalem verletzt, berichteten Ärzte. Nach dem Mord eines Siedlerehepaars durch fünf Palästinenser vor den Augen ihrer Kinder wird mit Vergeltungsangriffen jüdischer Extremisten gerechnet.

Gewalt erzeugt Gegengewalt. Diesen Automatismus will die israelische Regierung mit härteren Strafen unterbinden. Vor zwei Wochen schon sprach Premierminister Benjamin Netanjahu von einem „Krieg gegen Steinewerfer“; nach seiner Rückkehr von der UN-Generalversammlung in New York kündigte er nun einen „Krieg gegen den palästinensischen Terror“ an. Er sagte: „Ich habe weitere Schritte angeordnet, um Terror abzuwenden, sowie Attentäter abzuschrecken und zu bestrafen. Dazu zählen: Häuser der Familien von Attentätern schneller zu zerstören, Administrativhaft für Randalierer, eine verstärkte Präsenz von Sicherheitskräften in Jerusalem und im Westjordanland, und Aufrührer bekommen keinen Zugang zu Altstadt und Tempelberg.“

Ob Abschreckung und Einschüchterung bei der Haupttätergruppe wirkt, ist fraglich.

Der Palästinenser, der am Samstagabend in Jerusalem zwei orthodoxe Männer erstach und eine Mutter schwer verletzte, war 19. Der Mann, der einen 15-jährigen orthodoxen Juden wenig später mit einem Messer attackierte, war ebenfalls noch ein Teenager. Auch die Steinewerfer auf den Straßen der West Bank sind häufig im Jugendalter. Junge Männer sind besonders empfänglich für die religiöse Propaganda, mit der sie im Internet zu Angriffen gegen israelische Bürger und Siedler aufgerufen werden. Einige erklären sich dazu bereit, als Shahid (arabisch, Märtyrer“) zu sterben.

„Wir haben seit etwa zehn Jahren einen Stillstand im sogenannten Friedensprozess“, sagt der israelische Terrorismusexperte Amichai Magen von der Universität IDC Herzliya dieser Zeitung, „ein Jahrzehnt, in dem das Potenzial für einen großen Gewaltausbruch jedes Jahr gestiegen ist.“ Viele der jungen Täter haben die katastrophalen Folgen der Zweiten Intifada (2000-2005) nicht bewusst erlebt, kennen dafür aber die Ohnmacht angesichts von jüdischem Siedlungsbau, Siedler-Terror, Gaza-Kriegen, hoher Arbeitslosigkeit und Korruption.

So bekommt Palästinenserpräsident Mahmud Abbas (Fatah) zunehmend Druck von radikaleren Gruppen, die Sicherheitszusammenarbeit mit den Israelis zu beenden. Auch fürchtet der 80-Jährige, der seit 2005 Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde ist, ohne ein vorzeigbares Erbe abtreten zu müssen. Und angesichts der Lage in Syrien und dem Irak ist das internationale Interesse an den Palästinensern gesunken. Deshalb kommt Abbas der andauernde Konflikt um den Jerusalemer Tempelberg gelegen. Vor den Vereinten Nationen geißelte Abbas den angeblichen israelischen Angriff auf das bei Muslimen Haram al-Sharif („edles Heiligtum“) genannte Gelände, die drittheiligste Stätte des Islams.

Neue Konfrontationen im Streit um den Tempelberg

Radikale Juden verlangen, den Hügel nicht nur besuchen, sondern hier auch beten zu dürfen. Ihnen stellten sich gewaltbereite Demonstranten entgegen, die sich in der Al-Aksa-Moschee mit Steinen und Brandbomben verschanzten. Dass deswegen die israelische Polizei das Gelände erstürmte, ist für die Muslime ein Sakrileg. Am Sonntag verbot Israel Palästinensern aus dem Westjordanland den Zutritt zur Jerusalemer Altstadt.

Israel will nun verhindern, dass der politische in einen religiösen Konflikt umschlägt. Netanjahu hat deshalb betont, den Status quo unter allen Umständen bewahren zu wollen.

„Abbas versucht, den Tiger zu reiten“, sagt Amichai Magen über dessen neue Taktik. Nachdem seine Versuche, auf dem Verhandlungswege einen palästinensischen Staat zu schaffen oder in internationalen Foren zumindest die Isolation Israels voranzutreiben, gescheitert sind, setzt er nun kaum mehr verhohlen auf: Terror.