Berlin. Jüngster Bericht spricht von 1,5 Millionen Menschen in diesem Jahr. Bundesregierung rechnet mit starkem Nachzug von Frauen und Kindern

Mehrfach korrigierten Behörden in diesem Jahr die Prognosen der Flüchtlingszahlen nach oben. Noch im Februar ging der Bund von 300.000 Menschen aus, die aus Krisenregionen nach Deutschland fliehen. Mittlerweile liegen die Schätzungen des Bundesamts bei 800.000. Laut einem internen Papier, aus dem die „Bild“ zitiert, geht eine Behörde nun von 1,5 Millionen Flüchtlingen bis Ende 2015 aus. Die Bundesregierung kennt das Papier einem Sprecher zufolge nicht. Doch auch ein Dementi kommt nicht. Und so stellt sich die Frage: Wie viele Flüchtlinge kommen tatsächlich nach Deutschland?

Prognosen sind schwer, sie hängen von vielen Faktoren ab: etwa vom Fortgang der Kriege und der Armut in den Heimatländern der Geflohenen oder von den neuen Wegen, die Schleuser für ihr Geschäft finden. Entscheidend ist aber noch ein anderer Faktor: der Nachzug von Frauen und ihren Kindern. Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) sagte dem Hamburger Abendblatt: „Wir rechnen damit, dass im Zuge des Familiennachzugs sehr viele Frauen und Kinder nachkommen.“

Wie viele Frauensind unter den Flüchtlingen?

Ein Drittel der Flüchtlinge, die zuletzt nach Deutschland kamen, sind Frauen. Von den 256.938 Menschen, die von Januar bis August 2015 Asyl beantragten, waren 82.875 Frauen und Mädchen – und 174.063 Männer. Die meisten Antragstellerinnen sind sehr jung: Mehr als die Hälfte sind unter 25 Jahre alt. Bis Ende August stellten 13.000 Syrerinnen einen Antrag – bei den Männern waren es rund 40.000.

Warum fliehen bisher vor allem Männer?

Oftmals haben Familien in Kriegsgebieten gerade genug Geld, um ein Mitglied auf die Flucht zu schicken. Meistens fällt die Wahl auf junge Männer. Eltern schicken ihre Söhne los, sie sollen die gefährliche Reise – oft mithilfe von Schleusern – antreten, sichere Staaten in Europa erreichen und dann die Familie nachholen. Männer sind zudem auf der Flucht weniger den Risiken etwa von sexueller Gewalt ausgesetzt.

Was bedeutet das für die Lage in den Unterkünften?

„Ich sehe mit Sorge, dass der Schutz von Frauen und Mädchen in den Massenunterkünften bislang oft nicht gewährleistet wird“, sagte Familienministerin Schwesig. „Eine Rückzugsmöglichkeit für Frauen gibt es meist nicht.“ In den Gemeinschaftsunterkünften müssten aber klare Strukturen herrschen: „Das fängt schon damit an, dass die Toiletten und Waschräume abschließbar und nach Geschlechtern getrennt sein müssen.“ Bei der Neuregelung der Aufnahmestandards in Unterkünften will sich Schwesig unter anderem dafür einsetzen, dass es in den Unterkünften feste Ansprechpartner für Frauen gibt und ausreichend geschultes Personal zur Betreuung der oft traumatisierten Frauen. „Bei allen Maßnahmen zum Schutz, zur Versorgung und zur Integration müssen Frauen und Kinder Vorrang haben. Aufgrund der hohen Flüchtlingszahlen müssen wir Prioritäten setzen.“ Auch die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz, hob hervor: „So schwierig es derzeit ist, für alle Flüchtlinge überhaupt nur ein Bett und ein Dach über dem Kopf zu organisieren – wir müssen bestimmte Standards bei der Unterbringung von Frauen einhalten“, sagte die SPD-Politikerin dem Abendblatt.

Familienasyl – welche Möglichkeiten gibt es?

Über den Familiennachzug können anerkannte Flüchtlinge ihre Ehepartner und minderjährige Kinder nach Deutschland holen. Allein reisende Minderjährige, die Asyl bekommen, dürfen ihre Eltern nachholen. Um abzuschätzen, mit wie vielen Zuzüglern das Land auf Dauer rechnen muss, ist die Größe der Familie entscheidend: Einen „konkreten Faktor“ für die Statistik gebe es laut Innenministerium aber nicht. Die zu erwartenden Zahlen allerdings seien „nicht unerheblich“. 2014 lag die Zahl der nachziehenden Eheleute und Kinder bei 51.000 Personen. Die „Bild“ zitiert aus dem Behördenpapier, danach holt ein Flüchtling im Durchschnitt neben seinem Ehepartner zwischen drei und sieben Kindern nach. Begründet werde der Faktor mit den familiären Strukturen in den Staaten des Nahen Ostens.

Welche Gefahren drohen Frauen auf der Flucht?

Vergewaltigungen, Zwangsheirat oder Zwangsprostitution – von diesen Straftaten berichten Hilfsorganisationen. Vor allem Vorfälle in den großen Camps am Rande von Kriegsgebieten etwa in Jordanien und dem Libanon sind den Helfern bekannt. Familien bieten ihren Frauen und Kindern Schutz. Sind Frauen ohne Männer im Flüchtlingslager allein, verlieren sie diese Sicherheit.

Doch Schutz fehlt Frauen oft ebenso in einem sicheren Land in Europa. „Manche geflüchtete Frauen werden auch hier zwangsverheiratet oder zur Prostitution gezwungen“, sagte Maja Wegener von der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes. Die Organisation berichtet von einem aktuellen Fall: In einer Unterkunft verliebt sich eine junge Tochter in den „falschen“ Mann. Ihre Familie erlaubt die Beziehung nicht. Es kommt zu Gewalt vonseiten der Herkunftsfamilie und Morddrohungen. Es ist nur ein Vorfall von mehreren, die zuletzt bekannt wurden. Männer, Frauen und Kinder müssen monatelang auf Liegen schlafen, ohne Privatsphäre, in Hallen oder Zelten. Duschen und Toiletten sind oft nicht nach Geschlechtern getrennt. Flüchtlingsbeauftragte Özoguz sagte, es könne nicht sein, dass alleinstehende Frauen, noch dazu in der Unterzahl, mit einer Gruppe von alleinstehenden Männern untergebracht würden.

Ist es gut, wenn mehr Frauen nach Deutschland kommen?

Experten und Politiker setzen seit Langem auf die Frauen: „Frauen sind ein Schlüssel für gelingende Integration“, sagte Schwesig. Das Berlin Institut bilanziert: Unter allen Migranten gehören „die Frauen zu den Bildungs- und damit Integrationsgewinnern“. Auch die Kanzlerin setzt auf die Frauen – und hat sie gerade erst in einer Videobotschaft ermutigt: „Kontakte suchen, sich nicht einigeln, nur in der bekannten Gemeinschaft leben und arbeiten, sondern versuchen, rauszukommen.“

Schwesig warnte: „Die Fehler der Vergangenheit, sich nur auf die Arbeitsmarktintegration der Männer zu konzentrieren, dürfen wir nicht wiederholen.“ Jede Frau müsse so schnell wie möglich einen Integrationskurs machen und die Sprache lernen – auch um hiesige Vorstellungen von Gleichberechtigung zu fördern: „Es ist unabdingbar, dass das Thema der Gleichberechtigung von Frauen und Männern ein Schwerpunkt ist in den Integrationskursen.“ Das sei wichtig für die Frauen, „aber auch besonders für die Männer“.

Maja Wegener von der Hilfsorganisation Terre des Femmes hob hervor, dass sich ein Mensch aus Syrien oder dem Irak hier in Deutschland in einer völlig fremden Kultur einleben müsse. „Dann ist es eine Stütze, wenn er seine Familie bei sich hat und nicht Angst um Frau und Kinder haben muss.“ Das helfe den Menschen und deren Ankommen hier.