Was tun!? Die Flüchtlingsströme erinnern in ihrer wilden Entschlossenheit an Erlebnisse 1945 und 1952.

Die Stampede ist eine Instinkt-Panik-Gier-Reaktion, die Herdentiere mit Menschen, die ja auch Herdentiere sind, gemeinsam haben. Plötzlich, wie aus heiterem Himmel oder aus einem drohenden Gewitter überfällt die Tiere, und ebenso die Menschen, eine wild um sich schlagende Unruhe. Sie stürzen sich auf ein Ziel und gehen dabei wie die Lemminge zugrunde. Im Western sieht man sie in den Abgrund stürzen, Chaplins „Goldrausch“ am Klondike ist ein sehr goldgieriges Beispiel.

Mir ist die Stampede jetzt eingefallen, als ich Flüchtlingsströme in wilder, fast selbstmörderischer Entschlossenheit auf Zuggleise in Mazedonien, auf Bahnhöfe in Serbien, und vor allen Dingen in Budapest nach Überwindung von Stacheldrähten, stürzen sah. Stampede! Und die fast wie verrückt auf ein Ziel Ausgerichteten riefen „Germania!“ oder „Deutschland!“

Ich, der ich in meinem langen Leben in der rückblickend kurzen Jugend zwei Fluchten erlebt habe, war auch bei zwei Stampeden dabei. Im Mai 1945, Deutschland hatte schon kapituliert, zogen deutsche Flüchtlingsheere und zertrümmerte Armee-Einheiten zielgerichtet durch die Tschechoslowakei, die schon kein Protektorat mehr war, mit wilder Gier nach dem Westen, zu den Amis. Gedränge. Hochgepackte Pferdewagen mit Bündeln, auch Kinderbündeln, obendrauf, Traktoren, Ochsengespanne, Autos. Ich war elf Jahre alt.

Auf einmal der Ruf „Die Russen kommen!“ von irgendwoher. Panik brach aus. Kutscher schlugen auf ihre Ochsen und Pferde ein, die aus dem Geschirr brachen, Bündel fielen von Wagen und blieben, ob Mensch oder Kleinkind, liegen, Männer rannten in die Wälder, ihr Hab und Gut und Familie stehen lassend. Rette sich, wer kann!

In meiner Erinnerung hat diese Stampede wohl zwei bis drei Stunden gedauert, übrig blieb ein Haufen der Verwüstung, das Auto meines Vaters gab den Geist auf und wir blieben in der Wildnis stecken. Wie gekommen, so verschwand die Stampede, Bruch und Chaos auf der Straße hinter sich lassend. Die zweite Stampede, die ich erlebte, war 1952, sie hatte eine viel größere Ähnlichkeit mit der jetzigen Völkerwanderung – nur dass sie damals von Deutschland nach Deutschland ging.

Wie in einer Parole nach meinem Abitur in Bernburg 1952 beschloss meine Klasse, immerhin Dreiviertel der rund zwanzig Schüler und eine Schülerin, „nach dem Westen zu machen“. Wir verschworen uns heimlich, fuhren scheinbar zur Ostsee in die Ferien und dort über Schleichwege nach Berlin. In Berlin konnte man, sobald man die S-Bahn im Zentrum erreichte, über Friedrichstraße in den Westen weiterreisen. „Achtung, Sie verlassen jetzt den demokratischen Sektor Berlins“. Wir blickten betreten und verbissen auf die verräterischen Koffer zwischen unseren Beinen.

Tausende haben das jeden Tag getan. Die Springer-Zeitungen nannten das „die Abstimmung mit den Füßen“ und sie hatten Recht. Raus aus dem Kessel Berlin kam man, weil die alliierten Fluggesellschaften (Air France, British Airways und Pan American) die Lufthoheit zum Ausfliegen über die DDR hatten. Es waren zivilisierte, bürokratische, sehr geordnete Stampeden.