Berlin. Täglich kommen Tausende Flüchtlinge. Die Krise überfordert uns nicht, glaubt Kanzlerin Merkel. Die Behörden sind im Ausnahmezustand

Sie drängen und drücken an den Zugtüren, schmerzverzerrte Gesichter, verängstigte, weinende Kinder. Der Bahnhof von Budapest ist das Schleusentor zu Freiheit und Wohlstand: nach Deutschland. Die Bilder lassen keinen Poltiker kalt, auch nicht einen ausgebufften Profi wie Volker Kauder. „Was muss getan werden?“, ruft der Unions-Fraktionschef aus, eine rhetorische Frage. Man müsse die Menschen „aufnehmen, integrieren, ihnen eine Perpektive geben“, sagt er.

Hotspots in Griechenland und Italien würden Deutschland spürbar entlasten

Im „früheren Leben“ hat Kauder beim Landratsamt gearbeitet. Aus der Zeit kennt sich der CDU-Mann im Katastrophenschutz aus. Wenn sich eine Naturkatastrophe ereigne, funktioniere es „in unserem Land ganz hervorragend, und zwar deshalb, weil es dafür Pläne gibt“. Da stehe genau drin, wie was abzulaufen habe, welche Verwaltungsvorschriften nicht mehr gelten. So stellt er sich auch die Lösung der Flüchtlingskrise vor. In den nächsten Wochen soll das Land auf Notmodus umschalten. Vom Erfolg der Operation hängt es ab, ob Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ihr Wort halten kann: „Wir schaffen das.“ Das sei „völlig in Ordnung“ gewesen, findet Kauder, „um alle Kräfte zu mobilisieren“. Das Kanzlerwort – eine sich selbst erfüllende Prophezeiung? Wenn jeder an seinem Platz seine Arbeit mache, „schaffen wir das“, sagt Kauder mit Blick auf die Länder und Kommunen. Eine gemeinsame Aufgabe ist es. Indes kommt die Schlüsselrolle dem Bund zu. Auf EU-Ebene drängt Merkel darauf, in Italien und Griechenland Aufnahmezentren für Flüchtlinge einzurichten. Solche Hotspots würden Deutschland entlasten, mindestens um 100.000 Flüchtlinge. Kauder verläßt sich nicht auf die EU, sondern geht von den Prognosen der Regierung aus: „Wir! bekommen! in diesem Jahr! im Minimum! 800.000 Menschen“, ruft er.

Tatsächlich muss die Bundesregierung die Notsituation selbst bewältigen, aus eigener Kraft. Der wichtigste Hebel: schnellere Verfahren. Je früher über einen Asylantrag entschieden wird, desto rascher können abgelehnte Bewerber abgeschoben werden oder andernfalls mit ihrer Integrationsförderung beginnen: Sprachkurse, Jobvermittlung, Qualifizierung. 2014 dauerte ein Verfahren im Durchschnitt 7,4 Monate, inzwischen sind es nur 5,1 Monate. Das Ziel ist, die Dauer auf drei Monate zu drücken. Deswegen hat der Bundestag 2014 und 2015 bereits 1650, für 2016 weitere 1000 Stellen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) beschlossen. Seit Juli hat das Amt 330 Mitarbeiter eingestellt, die „in Kürze“ anfangen werden.

Wenn es bis Jahresende nicht gelingt, die Verfahren auf drei Monate zu verkürzen, scheitert auch der Plan, alle Flüchtlinge bis zur Entscheidung über ihre Asylanträge in den Erstaufnahmelagern zu behalten. Bisher stehen 50.000 Plätze bereit. Um die erwarteten 800.0000 Flüchtlinge dort unterbringen zu können und nach drei Monaten auf die Kommunen zu verteilen, bräuchte man – rein rechnerisch – 200.000 Plätze. „Mindestens 150.000“ will man bis Jahresende schaffen, erläutert Kauder. Die zusätzlichen Kapazitäten will der Bund zu zwei Dritteln selbst bereitstellen, hauptsächlich mit eigenen Liegenschaften, früheren Bundeswehrkasernen. Das restliche Drittel muss neu aufgebaut werden. Bis Jahresende gelingt das bestenfalls mit Containern.

Nur wenn alle Asylbewerber in den Erstaufnahmelagern zusammenbleiben und nicht verteilt werden, kann das BAMF schnell über ihre Anträge entscheiden. Nur wenn die Verfahren verkürzt werden, können auch die Kommunen entlastet werden, weil dann weniger Flüchtlinge auf sie verteilt werden und die Kosten wonaders anfallen. Wenn schon nach drei Monaten über die Anträge entschieden wird, müssen die Kommunen auch nur so lange Taschengeld zahlen. Danach kommen die Leute entweder auf dem Arbeitsmarkt unter oder bekommen Hartz IV, wofür dann der Bund zuständig ist. Die Länder und Kommunen haben ein großes Interesse, die Verfahren zu beschleunigen, weil im Ergebnis zugleich Kosten umgeschichtet werden.

Am teuersten ist die Betreuung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Allein für die Stadt München geht es um 4000 Jugendliche. Eine logistische Herausforderung, die selbst die Kanzlerin umtreibt, als sie sich klarmachte, „dass eine Erzieherinnenausbildung Jahre dauert“. Die Lösung kann nur sein, dass entweder die Gruppenstärke pro Betreuer erhöht wird (von neun auf zwölf) oder dass weniger qualifizierte Mitarbeiter mit der Aufgabe betreut werden.

In jedem Fall läuft es darauf hinaus, die Standards zu senken. Das ist der Maßstab, der an vielen Stellen angesetzt wird: bei der ärztlichen Betreuung, beim Brandschutz, im Vergaberecht. Da hat Merkel immerhin einen ersten Erfolg in Europa erzielt. Die EU-Kommission wendet beim Vergaberecht eine Ausnahmeregel an. Auch sie ist im Krisenmodus.