Berlin . Besonders Demenzkranke sollen von 2017 an profitieren. Statt drei Stufen der Bedürftigkeit fünf Grade

Der Gesundheitsminister drückt aufs Tempo: Nach jahrelangen Debatten über die Verbesserung der Pflege hat Hermann Gröhe (CDU) die Umstellung von drei Pflegestufen auf fünf Pflegegrade auf den Weg gebracht. Wer verstehen will, warum Deutschland diese Reform braucht, muss sich Frau Mustermann anschauen.

Erika Mustermann ist 73 und demenzkrank, lebt in einer Wohngruppe und bekommt Hilfe von einem Pflegedienst. Der Gutachter hat einen Grundpflegebedarf von 48 Minuten veranschlagt. Das bedeutet: Pflegestufe I. Nicht nur für die 73-Jährige ist das zu wenig. Viele Demenzkranke haben einen Betreuungsbedarf, der sich durch das Stufensystem nicht decken lässt. Die Regierung will deswegen die Einstufung reformieren. Nach Gröhes Plänen bekäme Frau Mustermann ab 2017 Pflegestufe III und mehr Leistungen.

Im August will die Regierung das Pflegestärkungsgesetz im Kabinett beschließen. Kassen, Pflegedienste und Heime hätten dann mehr als ein Jahr Zeit, bevor die Reform am 1. Januar 2017 greift. Um die Umstellung von drei Pflegestufen auf fünf Pflegegrade zu finanzieren, soll der Beitragssatz zur Pflegeversicherung vom 1. Januar 2017 an um 0,2 Prozentpunkte steigen.

Wichtig: Frau Mustermann und alle anderen, die schon pflegebedürftig sind, müssen sich nicht neu begutachten lassen, sondern werden automatisch in das neue System überführt. Nachteile schließt Gröhe aus: Es gibt einen Bestandsschutz; selbst diejenigen, die sich probehalber neu begutachten lassen, sollen sich auf ihre bisherigen Ansprüche verlassen können. „Wer heute eine Leistung erhält, bekommt sie auch künftig“, lautet die Regierungslinie. Mehr als vier Milliarden Euro kostet der Bestandsschutz für die 2,7 Millionen Pflegebedürftigen.

Mit der Umstellung zum 1. Januar 2017 sollen alle Pflegebedürftigen um eine Stufe heraufgesetzt werden. In den meisten Fällen bedeutet das mehr Geld als heute: Wer zu Hause gepflegt wird und Pflegestufe I hat, bekommt heute 244 Euro im Monat, in der Pflegestufe II gäbe es künftig 316 Euro. Bei Demenzkranken soll es sogar zwei Schritte nach oben gehen, wie im Fall von Frau Mustermann. Rund 500.000 Menschen sollen dadurch erstmals Leistungen in Pflegestufe I bekommen. Wer zu Hause mit Pflegestufe III lebt (728 Euro Pflegegeld) und keine Demenz hat, bekommt beim Übergang in Pflegestufe IV den Plänen zu Folge keinen Cent mehr.

Bei der Einstufung sollen die Gutachter künftig sechs Kriterien prüfen: Mobilität (10 Prozent), Sprechen und Verstehen sowie psychische Stabilität (15 Prozent), Selbstständigkeit beim Essen und Trinken, Waschen und Ankleiden (40 Prozent), Umgang mit Medikamenten, Blutzuckermessung oder Prothesen (20 Prozent) und schließlich die Fähigkeit, den Alltag zu gestalten und Kontakte zu pflegen (15 Prozent).

Gröhes Entwurf bringt auch Veränderungen bei Heimbewohnern, die derzeit je nach Pflegestufe einen Eigenanteil zwischen 460 und 900 Euro pro Monat zahlen. Weil viele Patienten und ihre Angehörigen auf pflegerisch nötige Neueinstufungen verzichten, um höhere Eigenanteile zu vermeiden, sollen die Eigenanteile in allen fünf Pflegegraden in Zukunft bei durchschnittlich 580 Euro eingefroren werden. Das bedeutet: Mehrkosten zu Beginn der Pflege, aber auf Dauer Entlastung.

„Großzügig“ findet Gesundheitsökonom Heinz Rothgang die neuen Regelungen. Der Bremer Wissenschaftler hatte die Reformpläne modellhaft in einigen Pflegeheimen getestet. Die Regierung gebe mehr Geld aus als erwartet, lobt er. Jedoch: „Mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff wird die Einstufung verändert, das heißt nicht, dass die Pflege besser wird.“ Laut Rothgang werden heute bundesweit 70 Prozent der Pflegebedürftigen zu Hause betreut, die Mehrheit nimmt nur Pflegegeld in Anspruch, weniger als die Hälfte nutzen ambulante Dienste.

Auch Elisabeth Scharfenberg, Pflegeexpertin der Grünen, begrüßt die Reform grundsätzlich, warnte aber, die Wirkung zu überschätzen: Mehr Geld bedeute „nicht automatisch bessere Qualität“. Es sei vollkommen offen, ob die zusätzlichen Mittel wirklich ankommen würden. Experten schätzen, dass die Zahl der Pflegebedürftigen bundesweit bis 2030 um rund 35 Prozent steigen wird.