Berlin. Merkel startet Bürgergespräche. Sie möchte unter dem Motto „Gut leben in Deutschland - Was uns wichtig ist“ herausfinden, was Deutsche wollen.

Die Kanzlerin steht da wie in der Kneipe. Den Unterarm auf das Pult gestützt, den Kopf ein bisschen schief gelegt. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten sieht das entspannt aus. Als hätte sie alle Zeit der Welt. Als würde es so etwas wie Griechenland-Dauerkrise, G7-Gipfel in Elmau oder BND-Skandal gar nicht geben.

Und so soll das an diesem Montagnachmittag auch wirken. Angela Merkel sagt: „Ich möchte hören, was Ihnen wichtig ist.“ 60 Menschen sitzen in der Kulturbrauerei in Prenzlauer Berg in Berlin. Sie wurden zufällig ausgewählt und sollen ungefähr einen Querschnitt durch die Gesellschaft bilden. Unter dem Motto „Gut leben in Deutschland – Was uns wichtig ist“ diskutiert die CDU-Chefin mit ihnen über soziale Fragen, Gesundheit und Bildung.

Merkel wirkt neugierig. Will nah bei den Leuten sein, setzt sich auch neben sie

Also über das, was die Menschen im Alltag beschäftigt. Und was in der Politik oft zu kurz kommt. So hat ein 72-Jähriger Sorge um die Rente seiner Enkel. Ein Mann aus dem Speckgürtel von Leipzig würde gern so viel Rente bekommen wie die Menschen im Westen. Und eine junge Ergotherapeutin, die in den Niederlanden studiert hat, findet es schade, dass sie ihr Studium nicht in Deutschland machen konnte.

Merkel wirkt neugierig. Will nah bei den Leuten sein. Setzt sich auch mal neben sie. Nickt ihnen aufmunternd zu. Fragt nach, ob sie alles richtig verstanden hat. Positioniert sich selten, sagt viel öfter, dass sie in der Regierung jetzt mal über das Thema nachdenken werde. Sie will vor allem zuhören. Es soll hier nicht um sie gehen, das betont die Kanzlerin immer wieder. Wenn die Gäste zu neugierig sind, sagt sie: „Aber Sie sollen mich ja gar nicht so viel fragen.“ So bleibt Merkel aber auch unkonkret. Zum Beispiel beim Thema Zuwanderung. Da sagt sie Sätze wie: „Meine Partei spricht von einem Zuwan- derungsland, glaube ich.“ Es gibt einen Streit in der Union, CDU-Generalsekretär Peter Tauber will ein neues Zuwanderungsgesetz, Fraktionschef Volker Kauder und andere lehnen das vehement ab. Merkel vermeidet es hier immer noch, zu sagen, was sie denkt.

Merkel spricht sich dafür aus, Asylbewerbern in Deutschland schneller das Recht zum Arbeiten einzuräumen. Zudem müssten etwa Afrikaner, die gut ausgebildet sind, auf regulärem Wege einreisen können – und nicht auf lebensgefährlichen Fluchtwegen.

Ein anderes Mal verhaspelt sich Merkel. „Wir haben ja schon drei Milliarden Arbeitslose“, sagt sie, als es um Zuwanderung geht. Der gut gelaunte, braun gebrannte Moderator Tilmann Schöberl, der beim Bayerischen Rundfunk arbeitet und ohne Probleme gut als Animateur beim Robinson Club sein Geld verdienen könnte, schaltet sich kurz ein. Und die Kanzlerin sagt ein wenig verlegen: „Milliarden kostet’s dann meistens, deshalb war ich …“

Es ist die erste von 150 Bürgerdialog-Veranstaltungen, alle Minister werden in ähnlichen Formaten mit den Menschen sprechen. Am Ende wird dann ausgewertet. Die Ergebnisse sollen teilweise in einem Aktionsplan der Bundesregierung umgesetzt werden. Und es ist das erste Mal seit Langem, dass sich Merkel so explizit um innenpolitische Themen kümmert. So kontert sie auch den beliebten Vorwurf, über den Dingen zu schweben und nur noch Europa- und Außenpolitik zu machen. Man könnte es aber auch so sehen: Schwarz-Rot hat in den ersten eineinhalb Jahren seit Beginn der Koalition schon aus vollen Rohren geschossen. Es gibt schon die Rente mit 63, den Mindestlohn, eine Frauenquote. So viel bleibt da gar nicht mehr übrig. Zeit also, ein paar Anregungen aus dem Volk aufzugreifen.

Die Menschen mögen den spröden Charme der Kanzlerin

Und es geht um alles, marode Kommunalfinanzen, Ärztemangel auf dem Land, zu große Schulklassen. Eine Frau versteht nicht, warum sie für bestimmte Untersuchungen beim Arzt zahlen muss, etwa wenn ihr Augendruck gemessen werden soll. Merkel fällt da nicht viel mehr zu ein als: „Ich werde mit dem Gesundheitsminister darüber reden.“

Eine junge Frau aus einem Dorf in Oberfranken beschwert sich, dass nicht genug Geld für ein neues Feuerwehrauto da ist. Merkel fragt kurz nach, wo die Frau genau herkommt. Und fasst ihre Erkenntnis dann so zusammen: „Thiersheim hat also kein Feuerwehrauto.“ Alle lachen. Die Menschen mögen diesen spröden Merkel-Charme. Keiner der Eingeladenen geht die Kanzlerin an. Ab und an spürt man sogar die Ehrfurcht, die die Menschen der Frau, die seit fast zehn Jahren Deutschland regiert, entgegenbringen. Da fallen Sätze wie: „Frau Merkel, vielen Dank, dass Sie uns Ihr Ohr leihen.“ Und natürlich bedankt sich am Ende auch die Kanzlerin: „Ich nehme mit, dass Sie sich gut vorbereitet haben.“