Berlin. Schon 2008 soll das Bundeskanzleramt über den Verdacht gegen den US-Dienst NSA informiert gewesen sein. Der Innenminister war damals Amtschef

In Hierarchien gibt es einen heiligen Grundsatz: Die Verantwortung für Probleme muss auf der unteren Ebene liegen. Der Bundesnachrichtendienst (BND) untersteht dem Bundeskanzleramt. Deshalb war es am vergangenen Donnerstag nur logisch, dass Regierungssprecher Steffen Seibert sagte, das Bundeskanzleramt habe „im Rahmen der Dienst- und Fachaufsicht technische und organisatorische Defizite beim BND identifiziert“. Das war ein heftiger Tadel von oben nach unten. Unter schweren Beschuss geriet somit Gerhard Schindler, der Präsident des BND.

Im Parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestages zur Überwachung deutscher Geheimdienste und im Untersuchungsausschuss zu den Aktivitäten der US-amerikanischen NSA (National Security Agency) war zuvor bekannt geworden, dass die NSA im Zuge ihrer Zusammenarbeit mit dem BND versucht haben soll, Informationen nicht nur über Terroristen oder Waffenschmuggler zu bekommen, sondern auch über Unternehmen wie EADS oder Eurocopter. Der Verdacht lautete also auf amerikanische Wirtschaftsspionage – und darauf, dass der BND bei dieser definitiv illegalen Tätigkeit irgendwie mitgemacht haben soll.

Doch hiervon erfahren haben soll die Bundesregierung – so schien es zunächst – erst im März 2015. Also neun Jahre nach dem Beginn der NSA-BND-Zusammenarbeit im bayerischen Bad Aibling, wo die beiden Geheimdienste seit 2004 dabei kooperieren, die weltweite Satelliten-Kommunikation zu durchsuchen. Wegen dieser enormen Zeitverzögerung zwischen dem Beginn der Überwachung und der Kenntnisnahme des Bundeskanzleramts von möglicherweise illegalen Praktiken ließ sich zunächst gut verstehen, dass die Bundesregierung ihren Sprecher den BND scharf tadeln ließ.

Doch dann berichtete „Bild am Sonntag“, schon 2008 sei das Kanzleramt darüber informiert worden, dass in Bad Aibling etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Mehr noch: Es sei der BND gewesen, der die Regierung damals darauf hingewiesen habe. In einem streng vertraulichen Bericht habe der Auslandsgeheimdienst das Kanzleramt unter dessen damaligem Leiter, dem heutigen Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), informiert, dass die NSA bei der Kooperation mit dem BND Täuschungsversuche unternommen habe.

Nämlich so: Bei der kurz nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 vereinbarten Zusammenarbeit übermittelt die NSA den Deutschen elektronische Koordinaten von Zielobjekten, die dann von der BND-Software ins Visier genommen werden sollen. Anschließend werden gewonnene Erkenntnisse den Amerikanern zugeleitet. Der BND kannte dabei, so scheint es jedenfalls, nicht die konkreten Zielobjekte, sondern nur jene Koordinaten, die sogenannten Selektoren, zu denen vor allem Mail-Adressen oder IP-Nummern zählen. Doch unter diesen Selektoren der NSA – so habe es der BND laut „BamS“ 2008 ans Kanzleramt gemeldet – seien immer wieder solche gewesen, die auf Firmen oder Behörden hingedeutet hätten, welche man überhaupt nicht hätte überwachen dürfen.

Nach Recherchen der „Welt am Sonntag“ fand der BND solche unerlaubten Selektoren der NSA bereits 2005. Seitdem versuchte der deutsche Auslandsgeheimdienst, die unzulässigen Selektoren aus den Überwachungsprogrammen herauszufiltern, damit die betreffenden Institutionen oder Personen gar nicht kontrolliert wurden. 2008 erstellte der BND eine Schwarze Liste mit inakzeptablen NSA-Selektoren. Und über diese Liste soll der BND 2008 das Kanzleramt informiert haben. 2010 soll der BND auch de Maizières Nachfolger im Kanzleramt, Ronald Pofalla (CDU), über die rechtswidrige Praxis der NSA in Kenntnis gesetzt haben. Ob das Kanzleramt darauf damals reagierte, ist offen. Am Sonntag wollten weder die Bundesregierung noch de Maizière die Berichte kommentieren. Offen ist aber auch, ob der BND tatsächlich alle unzulässigen NSA-Selektoren herausfiltern konnte oder wollte, wer dabei was im BND wusste und in welchem Umfang eventuell doch illegale Wirtschaftsspionage unter Mithilfe des deutschen Auslandsgeheimdienstes betrieben wurde.

Für die Opposition jedenfalls ist klar, dass man den Schwarzen Peter nicht allein dem BND zuschieben darf. Nach Ansicht des Grünen-Obmanns im NSA-Untersuchungsausschuss, Kon­stantin von Notz, ist schon die BND-NSA-Zusammenarbeit als solche ein Problem. „Spätestens ab 2005 war klar, dass bei der Zusammenarbeit von BND und NSA größtes Misstrauen angebracht war. Denn schon damals wurde deutlich, dass die Amerikaner nicht nur Terroristen oder Geldwäschern auf die Spur kommen, sondern auch andere Informationen bekommen wollten.“ Weil die Deutschen trotzdem weiter mitspielten, hält von Notz den BND und auch das Bundeskanzleramt nicht etwa für gutgläubig, sondern für „bösgläubig“.

Denn bloß naiv oder unwissend seien die Deutschen nicht gewesen. Vielmehr sei ja, so von Notz weiter, die „Gefahr in Deutschland gesehen“ worden, was man schon daran ablesen könne, „dass der BND die Selektoren der NSA zu filtern versuchte“. Dass trotz der offensichtlichen Bedenken bei den Deutschen die Zusammenarbeit fortgesetzt wurde, deutet für von Notz „darauf hin, dass bis mindestens 2013 sowohl beim BND als auch in der Bundesregierung immer wieder hoch problematische Entscheidungen getroffen wurden. Man hat sich über rechtliche und tatsächliche Bedenken einfach hinweggesetzt.“ Richtig „ärgerlich“ ist aus Sicht des Grünen dabei, dass sich der Bundestag bislang kein klares Bild von den Vorgängen machen kann, obwohl der NSA-Untersuchungsausschuss schon 2014 einen Beweisantrag stellte, um Hinweisen auf eine illegale Ausspähung europäischer Unternehmen auf den Grund zu gehen.