Bergen-Belsen. Vor 70 Jahren befreite die britische Armee die Insassen des KZ in der Heide. Joachim Gauck dankt den Soldaten

Sara Atzmon stützt sich auf ihren Rollator, ihr Ehemann hält ihr den Regenschirm. Einen Tag vor ihrem 82. Geburtstag kehrt die Malerin an den Ort zurück, an dem sie als Kind die Hölle durchlebte. Jeden Tag musste sie im Konzentrationslager Bergen-Belsen (Landkreis Celle) ansehen, wie Leichen zu den Krematorien gebracht wurden. 60 Angehörige hat die gebürtige Ungarin während des Nazi-Terrors in Lagern verloren. Atzmon reiste aus Israel hierher, sie fühlt sich der Millionen Holocaust-Toten verpflichtet – und um den jungen Menschen zu erzählen, was passiert ist.

Die alte Dame ist eine von 90 Überlebenden unter den 1000 Gästen der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Befreiung des KZ. Viele von ihnen werden von ihren Kindern und Enkeln begleitet, einige haben die israelische Fahne umgehängt. Im Regen bewegen sie sich über das Gelände der Gedenkstätte in der kargen Heidelandschaft. Unter der Wiese mit den Birken liegen die Massengräber. Auf vielen Gedenksteinen liegen Blumen.

Bundespräsident Joachim Gauck hält die zentrale Rede unter freiem Himmel. Gleich zu Beginn wendet er sich an die Überlebenden und betont die „unermessliche Schuld“, die Deutsche zwischen 1933 und 1945 in ganz Europa auf sich luden. Der unfassbare Abgrund könne mit Worten wie „Schrecken“, „Schande“ oder „Schuld“ nur unzureichend beschrieben werden.

Sara Atzmon sagt später, dass ihr diese Stelle in der Rede Gaucks am besten gefallen hat. „Die Deutschen sagen, sie haben es gemacht.“

Orte wie Bergen-Belsen, Buchenwald oder Dachau seien Symbole für die politische, moralische, kulturelle und humanitäre Katastrophe, zu der das „Dritte Reich“ geführt habe, sagt der Bundespräsident weiter. Deutschland sei Teil einer Verantwortungsgemeinschaft, die sich dazu bekenne, die Würde des Menschen zu verteidigen. „Wo wir nur können, werden wir Unrecht ein Ende setzen.“ Die britischen Soldaten sind laut Gauck „Botschafter einer demokratischen Kultur gewesen, die nicht auf Rache am Feind bedacht war, sondern dem Recht und der Menschenwürde auch in Deutschland wieder zu neuer Geltung verhelfen sollte“.

Ein Wiederaufleben des Antisemitismus beklagte der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Ronald Lauder. „Im Jahr 2015 sehen wir den Antisemitismus auf dem Vormarsch in Europa.“ Ein jüdischer Junge mit Kippa könne nicht durch Paris oder London laufen, ohne um sein Leben zu fürchten. Neonazi-Gruppen gewännen Parlamentssitze in Ungarn und Griechenland, und der Iran drohe regelmäßig mit der Auslöschung Israels.

Allein in den letzten drei Monaten vor der Befreiung am 15. April 1945 starben in Bergen-Belsen rund 35.000 Häftlinge. Die von den Briten nach der Befreiung gedrehten Filmaufnahmen schockierten die Welt. Zu sehen sind ausgemergelte Menschen mit leeren Augen, die kaum von den Toten zu unterscheiden sind. Die knapp zwölfjährige Sara Atzmon, die damals noch Gottdiener hieß, wog bei ihrer Befreiung noch 17 Kilo. In Bergen-Belsen waren allein in den letzten Kriegsjahren geschätzt etwa 3000 Kinder unter 14 Jahren untergebracht. Daher leben bis heute noch relativ viele ehemalige Lagerinsassen.

Zum Abschluss der Gedenkstunde, als der Himmel aufreißt, sprechen Überlebende aus der Ukraine, aus Polen, Frankreich, Israel und den USA. Einige erinnern an das „Wunder der Wiedergeburt“, aufgrund dessen Bergen-Belsen eine besondere Bedeutung für Juden weltweit hat. Wegen der Seuchengefahr brannten die Briten die Baracken des KZ kurz nach der Befreiung nieder. Doch nur wenige Kilometer entfernt entstand das Displaced Persons Camp, in dem bis 1950 Tausende Juden auf ihre Ausreise nach Israel warteten. Hier gab es eine Schule, Büchereien, ein Orchester und sogar zwei Theater.

Manny Mandel, der als Achtjähriger 1944 in Bergen-Belsen ankam, sagt: „Und doch kam Leben nach dem Tod.“ Das Disclaced Persons Camp bezeichnet der Überlebende, der heute in der amerikanischen Hauptstadt Washington lebt, als „Übergangsheimat für viele: Es war der Ort, an dem über 2000 jüdische Kinder geboren wurden, von denen einige heute hier sind“.