Hamburg. Bei Taten wie dem erweiterten Suizid können starke Gefühle wie Rache eine Rolle spielen. Und eine Feindseligkeit sich selbst gegenüber.

Die Frage, warum Menschen manchmal nicht nur sich selbst das Leben nehmen, sondern auch andere mit in den Tod reißen, beschäftigt auch viele Experten. Zwar ist diese Form der Selbsttötung selten, nur bis zu vier Prozent aller Suizide fallen in diese Kategorie, doch jeder Fall führt zu einer hohen öffentlichen Resonanz. Das schreibt der Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Bezirkskrankenhauses Bayreuth, Manfred Wolfersdorf, in der Fachzeitschrift „Neurotransmitter“.

Viele denken bei dem Weg in den Tod, den Co-Pilot Andreas L. nach Erkenntnissen der Ermittler wählte, an den Begriff des erweiterten Suizids. „Wir kennen zwar den Begriff des erweiterten Suizids, bei dem Menschen andere mit in den Tod nehmen. Dabei handelt es sich aber meistens um Beziehungstaten, bei denen jemand bekannte Personen aus der Familie, Mitschüler oder Arbeitskollegen tötet und sich anschließend tötet.

Das Besondere in diesem Fall ist die Vielzahl der Opfer, die dem Täter vermutlich in der Mehrzahl nicht bekannt waren“, sagt der Psychologe Georg Fiedler, Mitglied des Nationalen Suizidpräventionsprogramms und Verantwortlicher der Spezialambulanz für Suizidgefährdete am Universitätsklinikum Eppendorf.

Der Todesflug von Germanwings 4U 9525

Auch am Mittwochabend gedachten an der Schule der verunglückten Jugendlichen in Haltern zahlreiche Menschen der Opfer
Auch am Mittwochabend gedachten an der Schule der verunglückten Jugendlichen in Haltern zahlreiche Menschen der Opfer © dpa | Rolf Vennenbernd
Mit Anbruch der Nacht mussten die Einsatzkräfte die Suche erneut einstellen
Mit Anbruch der Nacht mussten die Einsatzkräfte die Suche erneut einstellen © Peter Macdiarmid
Einsatzkräfte bahnen sich den Weg durch das unwegsame Gebirge
Einsatzkräfte bahnen sich den Weg durch das unwegsame Gebirge © dpa | Guillaume Horcajuelo
Einsatzkräfte bahnen sich den Weg durch das unwegsame Gebirge
Einsatzkräfte bahnen sich den Weg durch das unwegsame Gebirge © AP | Laurent Cipriani
Die deutsche, die französische und die spanische Flagge an der Unglücksstelle
Die deutsche, die französische und die spanische Flagge an der Unglücksstelle © AFP | ANNE-CHRISTINE POUJOULAT
Der französische Präsident Francois Hollande (3.v.l-r), die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy kamen am Mittwochnachmittag am Unglücksort an
Der französische Präsident Francois Hollande (3.v.l-r), die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy kamen am Mittwochnachmittag am Unglücksort an © dpa | Daniel Karmann
Rajoy, Hollande und Merkel nahe der Unglücksstelle
Rajoy, Hollande und Merkel nahe der Unglücksstelle © AP | Christophe Ena
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Sollte es ein Suizid gewesen sein, gebe es dafür nur wenige Präzedenzfälle, sagt der Psychologe. In der Geschichte seien nur sechs Abstürze von größeren Passagiermaschinen bekannt, bei denen Suizidabsichten im Gespräch waren. Nur ein Fall davon sei bislang wirklich gesichert. Insofern könne man jetzt nur darüber spekulieren, was im Falle einer Tat in dem Co-Piloten vorgegangen sein mag.

Rache spielt beim Homizid-Suizid eine große Rolle

Eine solche Selbsttötung wird auch Homizid-Suizid genannt. Aber anders als beim Amoklauf, bei dem die Absicht im Vordergrund steht, andere zu töten oder zu verletzen, charakterisiert den Homizid-Suizid auch die Feindseligkeit sich selbst gegenüber. Sie ist so stark, dass die Selbsttötung im Vordergrund steht. „Die Motivation zur Tötung anderer ist oft feindselig bis krankhaft paranoid gefärbt“, schreibt Wolfersdorf zum Homizid-Suizid. Es ist also eher unwahrscheinlich, dass Andreas L. die Selbsttötungsabsicht im Cockpit spontan und impulsiv kam. Rache spielt beim Homizid-Suizid eine große Rolle, wenn keine psychische Grunderkrankung vorliegt, die paranoide und psychotische Züge hat. Als Grund für eine solche Tat sei vieles vorstellbar, auch, dass Hass auf die Welt eine Rolle spielen kann, sagt Fiedler.

Auf dem Stimmenrekorder ist zu hören, wie sich Kapitän und Copilot vor dem Absturz noch entspannt unterhalten. Dass man Andreas L. unmittelbar vor der Tat keine Suizidabsicht anmerkt, ist nicht ungewöhnlich. „Dieses Phänomen sehen wir immer wieder“, sagt Fiedler.

Ein Beispiel: Jemand wird wegen Suizidgefahr gegen seinen Willen auf einer geschlossenen Station aufgenommen. Bei der richterlichen Anhörung kann er so überzeugend glaubhaft machen, dass die Gefahr vorüber ist, dass die Unterbringung aufgehoben wird. Gleich danach verlässt er die Klinik und unternimmt einen Suizidversuch. „Jemand der Suizidgedanken hat, kann von außen entspannt und normal wirken. Oft ist es sogar so, dass Menschen, die den festen Entschluss gefasst haben, sich zu töten, plötzlich viel besser gestimmt wirken als vorher. Von dem nahem Umfeld wird dann oft fälschlicherweise angenommen, es gehe ihm wieder besser“, erklärt Fiedler.

Klar sei, dass ein Suizid nie nur eine Ursache habe, sondern das Ergebnis vieler Einflüsse sei. „Die Diagnose Depression erklärt nicht, dass jemand zum Mörder wird“, sagt Fiedler. „Die meisten Menschen, die sich töten, tun dies vor dem Hintergrund einer psychischen Erkrankung. Dann kommen aktuelle Ereignisse hinzu, wie zum Beispiel eine schwere Kränkung“. Wichtig sei auch, ob durch aktuelle Ereignisse schmerzliche Erinnerungen an belastende Erlebnisse wachgerufen würden. Eine Rolle spielen könne auch, ob in der Familie des Betroffenen Suizid eine Lösungsmöglichkeit für ein Problem darstellte. Bei einigen psychischen Erkrankungen ist das Suizidrisiko erhöht. Laut der Weltgesundheitsorganisation ist es am höchsten bei Menschen mit manisch - depressiven Erkrankungen, bei der Alkoholkrankheit, der Schizophrenie und bei Depressionen.

Eine depressive Phase dauert meist mehrere Monate an

Auch bei der Diskussion über mögliche psychische Probleme von Andreas L. taucht der Begriff der Depression auf. Sie gehört zu den affektiven, also Stimmungsstörungen. Dabei ist die Stimmung der Betroffenen entweder chronisch übermäßig gedrückt wie bei den unipolaren Depressionen oder übermäßig positiv wie in der Manie. Den größten Anteil macht dabei die unipolare Depression aus. Zentrale Symptome sind anhaltende Niedergeschlagenheit, Interessenverlust, Schlafprobleme, verminderter Antrieb und Schwierigkeiten damit, Gefühle wahrzunehmen. Eine depressive Phase dauert meist mehrere Monate an und klingt dann von allein wieder ab.

Es stellt sich auch die Frage, ob Andreas L. nicht Mitgefühl mit den anderen Flugzeuginsassen empfunden hat. „Ich weiß aus meiner Arbeit, dass Menschen, die sich töten wollen, vereinzelt die aggressive Fantasie haben können, andere Menschen mitzunehmen, ohne dies jedoch zu tun. Andere sind so mit sich selbst beschäftigt, dass sie gar nicht an die Gefühle von anderen denken“, sagt Fiedler.