Berlin.

Stereotypen in den Köpfen von Eltern und deren Töchtern verfestigen den Graben zwischen den Geschlechtern in Deutschland. Zwar erreichen Mädchen hierzulande inzwischen die gleichen schulischen Leistungen wie Jungen, sie trauen sich in Naturwissenschaften aber deutlich weniger zu.

Die Eltern bremsen ihre Töchter dabei zusätzlich aus. Sie sehen vor allem ihre Söhne in einer gut bezahlten MINT-Karriere (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) – nur selten aber ihre Töchter. So ermuntern Eltern hierzulande 40 Prozent der Jungs zu einer naturwissenschaftlichen Beruf, aber nur 15 Prozent der Mädchen.

Das ist ein Ergebnis des ersten OECD-Bildungsberichts mit Fokus auf den Geschlechtern, den die Organisation der entwickelten Industriestaaten am Donnerstag veröffentlichte. „Wir wären als Gesellschaft deutlich erfolgreicher, wenn wir Mädchen und Jungen ähnliche Perspektiven bieten könnten, ihre Talente auch auszuschöpfen“, sagte OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher zu den Ergebnissen. „Die gute Nachricht ist, dass wir dazu weder langwierige noch teure Bildungsreformen brauchen“, sagte Schleicher weiter. „Es reicht, wenn Eltern, Lehrer und Arbeitgeber an einem Strang ziehen.“

Gerade die Eltern aber scheinen hierzulande die Geschlechterunterschiede zu zementieren. Sie unterscheiden sich, was die Berufserwartungen für ihre Töchter angeht, Schleicher zufolge, kaum von Eltern zum Beispiel in Mexiko. In wirtschaftlich erfolgreichen asiatischen Ländern wie Korea dagegen gebe es kaum geschlechterspezifische Unterschiede bei den Berufserwartungen der Eltern.

Der Auswertung des Pisa-Vergleichstest in den Industriestaaten zufolge haben 15-jährige Jungen selbst bei formal gleichem Bildungsstand deutlich mehr Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten. Gefragt, ob sie mathematische Aufgaben schnell begreifen, antworten Jungen wesentlich häufiger mit „Ja“ als Mädchen. Die wiederum halten sich viel häufiger für „einfach nicht gut in Mathe“, selbst wenn sie im PISA-Test genauso erfolgreich abschneiden wie ihre männlichen Alterskameraden. Deutschland gehört dabei innerhalb der OECD zu den Ländern mit dem größten „Gender Gap“ genannten Geschlechtergefälle.

In Deutschland können sich nur vier von hundert Mädchen vorstellen, später einmal in Ingenieur- oder Computerwissenschaften zu arbeiten. Bei den 15-jährigen Jungen sind es immerhin 14 Prozent. Problematisch ist diese Differenz auch, weil MINT-Berufe in der Regel zu gut bezahlten Karrieren führen. In kaum einem anderen OECD-Land sind die Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen so groß wie in Deutschland. Aber nicht nur in den Spitzen-Berufen, auch bei den Schulversagern sind Jungen überrepräsentiert. So sind unter den besonders leistungsschwachen Schülern in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften bis zu 60 Prozent Jungen. Entsprechend höher als das von Mädchen ist auch ihr Risiko, die Schule ohne Abschluss zu verlassen.

Die OECD gibt in ihrer Studie interessante Hinweise darauf, woran das liegen könnte. Da ist erstens das Thema Fleiß. Jungen verbringen im OECD-Durchschnitt etwas weniger als 4,5 Stunden in der Woche mit Hausaufgaben. Mädchen investieren über eine Stunde mehr – und können dadurch ihre Ergebnisse im Pisa-Test um einige Punkte beflügeln. Thema Nummer zwei ist die Einstellung. Doppelt so viele Jungen wie Mädchen halten Schule für „reine Zeitverschwendung“. Bei den Jungen sind es immerhin 15 Prozent, die ihre Zeit in der Schule ohne die Hoffnung absitzen, etwas Nützliches für ihr Leben zu lernen.

Engagierter sind die Jungen dagegen bei Thema Nummer drei: eher fragwürdigen Aktivitäten in ihrer Freizeit. Deutliche häufiger als Mädchen spielen sie Computerspiele, ob allein daheim oder per Internet mit anderen Spielern verbunden. Vor allem die interaktiven Spiele haben den Daten zufolge einen negativen Einfluss auf die schulischen Kompetenzen beim Lösen von Problemen. Warum das so ist, darüber konnte Studienleiter Schleicher nur spekulieren. Es könnte daran liegen, dass solche Gruppenspiele besonders zeitintensiv seien und sie besonders häufig spät abends gespielt würden. Die Leistungen in der Schule jedenfalls würden sie spürbar drücken.

Um diese zu beflügeln, könnten Lehrer nach Ansicht der OECD-Forscher einen wichtigen Beitrag leisten. „Sie müssten ihre Materialien so anpassen, dass sie auch die Jungen ansprechen“, fordert Schleicher. Bisher dagegen komme die Auswahl von Texten in Schulbüchern eher den Interessen von Mädchen entgegen: Sie können sich besonders für Romane begeistern. Sachtexte dagegen oder Zeitungsartikel, die von Jungen und Mädchen gleich favorisiert würden, kämen in der Regel deutlich weniger vor.

Mädchen bekommen signifikant bessere Noten als Jungen

Durch die richtige Strategie könnten die Pädagogen auch Mädchen zu höheren Leistungen anspornen, besonders in den Naturwissenschaften. Wenn sie den Schülern nämlich Gelegenheit geben, das Gelernte in einem anderen Kontext oder in der Praxis anzuwenden, sind die Mädchen besonders motiviert dabei, haben die Forscher der OECD herausgefunden.

Auch die Eltern sind gefragt: Sie könnten helfen, ihre Söhne zu Hausaufgaben zu ermuntern und die Zeiten am Computer zu begrenzen. Außerdem gelte es, den Einstieg ins Lesen durch passende Lektüre zu erleichtern.

Die Lücke bei der Lesekompetenz übrigens schließt sich binnen weniger Jahre. Unter den 15-jährigen Pisa-Testaten haben noch klar die Mädchen die Nase vorn. Unter den 16- bis 29-Jährigen schließen dann aber schließen die Männer auf. Offenbar seien sie in ihren Berufen stärker in Sachen Lesen gefordert als die Frauen und könnten daher aufholen, folgern die Forscher.

Schüler übrigens, die sich von ihren Lehrern ungerecht benotet fühlen, können in der Studie Bestätigung finden. Der Auswertung zufolge bekommen Mädchen, selbst wenn die Differenzen durch unterschiedliche Pisa-Ergebnisse herausgerechnet sind, signifikant bessere Noten als Jungen. Das gilt im Durchschnitt der OECD-Länder sowohl für Lesen als auch für Mathematik.

Woran das liegt? Daran, dass Lehrer in ihren Noten ganz offensichtlich nicht nur das Können, sondern auch Organisationstalent, konformes Verhalten und Regeltreue bewerten, mutmaßen die OECD-Forscher. Ob dieses Plus bei den Noten Mädchen allerdings auf lange Sicht nutzt oder schadet, darüber gibt die Studie keine Auskunft. Womöglich ist es für das spätere Berufsleben gar nicht nützlich, zu früh schon zu viel Konformität zu üben.