Berlin.

Andrea 21 – so laute der Codename in SPD und Gewerkschaften für das wohl größte Projekt der Andrea Nahles: die Kanzlerkandidatur im Wahljahr 2021. Das berichtete die „Bild“-Zeitung im September des vergangenen Jahres. Die SPD-Politikerin war damals im Zenit ihres Erfolgs. In einem atemberaubenden Tempo arbeitete sie den Koalitionsvertrag ab und erwarb sich so den Ruf der emsigsten Ministerin im Kabinett Merkel. Als erste Amtshandlung beglückte die Arbeits- und Sozialministerin die Deutschen mit der milliardenschweren Mütterrente und der Rente mit 63. Mit dem Mindestlohn setzte sie ein Wahlversprechen und Herzensanliegen der Sozialdemokraten um. Für Nahles eine der „größten sozialpolitischen Reformen in der Geschichte unseres Landes“ – und zugleich wohl auch ihr größter politischer Triumph.

Nun häufen sich bei der Turbo-Ministerin Pleiten, Pech und Pannen. Die Umsetzung des Mindestlohns bereitet Probleme, für die Wirtschaft ist sie zur Buhfrau aufgestiegen, und in der Koalition müht man sich, die Überfliegerin im Kabinett wieder auf Normalmaß zurückzustutzen. Das Gesetz zur Tarifeinheit, ihr drittes großes Projekt, könnte zur ersten großen Niederlage der Ministerin werden. Am Donnerstag wird es erstmals im Bundestag beraten.

Mit dem Zwang zur Tarifeinheit will Nahles die Macht der streiklustigen Spartengewerkschaften brechen. Die Gewerkschaften der Lokführer, Piloten und Klinikärzte fürchten um ihr Streikrecht und ihre Existenz, wenn in einem Betrieb nur noch der Tarifvertrag der größten Gewerkschaft gelten soll. Für sie ist das Gesetz verfassungswidrig, greift es doch tief in die Koalitionsfreiheit ein.

Die Streiks der Lokführer und Piloten brachten Rückenwind für das Projekt der Ministerin, auf das Arbeitgeber und auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) seit Jahren drängen. Mittlerweile bröckelt aber die Unterstützung bei den Gewerkschaftern: Drei von sieben DGB-Organisationen tragen das Gesetz nicht mit, in vorderster Front die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di. Eine sozialdemokratische Arbeitsministerin, die das Streikrecht der Gewerkschaft einschränkt? Eine Ministerin, die mit einem zentralen Gesetzesvorhaben vor den Verfassungsrichtern scheitert? Keine schönen Aussichten für Andrea Nahles.

Unter Beschuss gerät die Ministerin auch mit ihrem Glanzstück, dem Mindestlohn. Seit dem Jahreswechsel häufen sich Beschwerden aus den Unternehmen über den bürokratischen Aufwand, der ihnen dadurch entsteht. So müssen künftig wöchentlich die Arbeitszeiten aller 6,8 Millionen Minijobber aufgezeichnet werden. In einigen Branchen gilt die Aufzeichnungspflicht für alle Beschäftigten, auch wenn diese weit mehr als den gesetzlichen Mindestlohn bekommen. Am Montag rief der Parlamentskreis Mittelstand der Unionsfraktion zu einem Tribunal, genannt „Fachgespräch“, in den Reichstag. Mehr als 300 Wirtschaftsvertreter waren gekommen, um über die „völlig überzogenen“ Dokumentationspflichten beim Mindestlohn zu klagen: vom Taxifahrer über Handwerker, Gastronomen, Schausteller, Gebäudereiniger bis zum Busunternehmer. Die Verbitterung ist groß: „Willkommen liebe Gauner und Doofe“, begrüßte ein Wirtschaftsvertreter die Anwesenden, hatte SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi doch erklärt, wer die Arbeitszeiten nicht aufzeichne, sei entweder ein Gauner oder zu doof. Einen ersten Erfolg haben die Kritiker erreicht: Der Koalitionsausschuss verdonnerte die Ministerin dazu, im März einen Bericht vorzulegen, damit bereits im April über Änderungen beim Mindestlohn beraten werden kann. Nahles, die zunächst jede Korrektur kategorisch abgelehnt hat und dann die Debatte bis in den Sommer verschleppen wollte, steht als Unterlegene da.

Und dann ist da noch die Sache mit den Kleiderschränken. Mitten in dem Streit um die Mindestlohn-Bürokratie, brach, geschickt platziert von Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer, eine Debatte um die Arbeitsstättenverordnung der Ministerin aus. „Man glaubt, in Absurdistan zu sein“, wetterte Kramer gegen die Verordnung, die unter anderem fensterlose Teeküchen verbot und für jeden Mitarbeiter eine abschließbare Kleiderablage vorschrieb. Wieder schloss Nahles Änderungen kategorisch aus, wieder lenkte sie später ein und versprach eine „Änderungsverordnung“. Diesmal war es das Kanzleramt, das sie zurückpfiff. Aus der Zeitung musste sie erfahren, „das Ding ist tot“.

Nahles Position in der Regierung ist damit geschwächt – zur Freude der Wirtschaftsverbände, denen schon vor den nächsten Projekten der emsigen Ministerin graut: der Regulierung der Zeitarbeit und der Werkverträge, wie sie im Koalitionsvertrag festgelegt ist. In der SPD vermutet man denn auch, es gehe den Kritikern gar nicht um Kleiderschränke und Stundenzettel, sondern darum, der SPD-Ministerin die Arbeit schwerer zu machen.