Haben sie Jerusalem aufgegeben? Katars Nachrichtensender al-Dschasira hat mit den Dokumenten einen Coup im Nahen Osten gelandet.

tel Aviv/Ramallah. Zum Thema Friedensverhandlungen in Nahost hat sich die Enthüllungsplattform WikiLeaks mit brisantem Material zurückgehalten. Jetzt stellte der arabische Fernsehsender al-Dschasira geheime Aufzeichnungen ins Internet. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas ging in die Defensive, die israelische Regierung erst einmal auf Tauchstation. Und die überraschte Öffentlichkeit in Israel und den Palästinensergebieten rieb sich verwundert die Augen.

Der arabische Fernsehsender al-Dschasira und die britische Tageszeitung „Guardian“ haben mit der Veröffentlichung von rund 1600 Geheimdokumenten begonnen, die – sofern sie wahr sind – ein neues Licht auf die Nahost-Friedensverhandlungen werfen. Schon machen Verschwörungstheorien die Runde, wer mit welchem Motiv hinter „Palileaks“ steckt, dem bislang größten Enthüllungs-Coup im Nahen Osten. Der palästinensische Chefunterhändler Saeb Erekat spricht von Lügen und Halbwahrheiten. Auch Jaakov Galanti, Berater des ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Ehud Olmert, hat „Ungenauigkeiten“ ausgemacht.

Dagegen schreibt der „Guardian“, dass viele Dokumente „unabhängig bestätigt“ worden seien. Das Blatt konnte beispielsweise das neue Material mit geheimen Depeschen von US-Diplomaten abgleichen, die WikiLeaks zur Verfügung gestellt hatte. Was ist an den Dokumenten so erstaunlich? Die moderate Palästinenserführung war demnach zu mehr Zugeständnisse bereit als bislang bekannt. Die Papiere belegen auch, dass zwischen den öffentlichen Äußerungen der Führung in Ramallah und ihrer Geheimdiplomatie mit Israel Welten liegen.

Man nehme das Beispiel Jerusalem. Die Palästinenser betonen gebetsmühlenartig, dass sie im besetzten arabischen Ostteil die Hauptstadt ihres Staates ausrufen wollen und Israel deshalb den Ausbau von Siedlungen stoppen soll. Die Dokumente vermitteln jedoch den Eindruck, dass sich die Führungsriege damit abgefunden hat, dass Israel elf von zwölf Siedlungen – für Israel bedeutet das Stadtviertel – in Ostjerusalem behält. Die Mitschriften scheinen auch im Nachhinein dem viel belächelten Optimismus der Regierung von Ex-US-Präsident George W. Bush im Jahr 2008 Recht zu geben, wonach Israel und die Palästinenser kurz vor einem Abkommen gestanden hätten.

Die moderate Palästinenserführung und al-Dschasira liegen seit Jahren über Kreuz. Der Führungskreis um Präsident Abbas beschuldigt den Sender, dass er die rivalisierende radikal-islamische Hamas-Organisation im innerpalästinensischen Machtkampf unterstützt. Der Generalsekretär der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO, Jassir Abed Rabbo, wirft dem Golfstaat Katar vor, die Führung um Präsident Abbas wegputschen zu wollen. Al-Daschasira ist in Doha, der Hauptstadt von Katar, beheimatet.

Aber wer hat das brisante Material al-Dschasira gegeben? Der „Guardian“ schreibt, dass die Mehrzahl der Dokumente, darunter Mitschriften und Gedächtnisprotokolle, aus einer Abteilung stammt, die Chefunterhändler Erekat untergeordnet ist. In dem Kreis soll es massiven Streit über Zugeständnisse an Israel gegeben haben. Andere Finger zeigten sofort in Richtung von Mohammed Dahlan. Der frühere starke Mann im Gazastreifen fiel zuletzt bei Abbas in Ungnade, weil er sich despektierlich über dessen Söhne geäußert hatte. Dass Dahlan das Datenleck zu verantworten hat, bezweifeln dessen Gefolgsleute.

Denn zu dem Zeitpunkt, als al-Dschasira die Dokumente erhalten habe, sei das Verhältnis zu Abbas noch unbelastet gewesen, sagen sie. Und dann kursieren in Ramallah Verschwörungstheorien, wonach Israel hinter allem steckt. Demnach will Israel versuchen, die Entscheidung des Weltsicherheitsrates zu beeinflussen. Dem liegt eine Resolution vor, den israelischen Siedlungsbau zu verurteilen. Warum solle man Israel verurteilen, wenn die Palästinenser insgeheim schon viele Siedlungen abgeschrieben hätten, lautet die Logik.

Jedenfalls bringen die Palästina-Papiere Abbas in Bedrängnis. Die radikal-islamische Hamas wirft ihm beispielsweise vor, mit Israel zusammenzuarbeiten und der palästinensischen Sache zu schaden. Auch der Rechtfertigungsdruck gegenüber den eigenen Landsleuten dürfte wachsen, je mehr Details bekannt werden.

(dpa)