Ottawa ist auch am Tag nach dem Attentat noch in Schockstarre: Ein 32-Jähriger tötete einen Soldaten. Die deutschen Behörden befürchten keine erhöhte Gefährdung.

Ottawa. Der Attentäter von Ottawa hat vor seiner Bluttat versucht, nach Syrien zu reisen. Der 32-jährige Michael Zehaf-Bibeau habe mit den Behörden in den vergangenen drei Wochen über seinen Reisepass verhandelt, hieß es am Donnerstag von der kanadischen Polizei. Er hatte am Mittwoch einen Ehrenwache haltenden Soldaten erschossen und war anschließend um sich feuernd ins Parlament gestürmt. Dort erschoss ihn ein Sicherheitsbeamter.

Die Polizei bestätigte, dass der Mann beim Angriff auf den Soldaten und das Parlament allein gehandelt habe. Dennoch werde weiter untersucht, ob er Unterstützer gehabt habe. Der Polizei zufolge stand er aber nicht, wie zuvor gemeldet, auf einer Liste von 90 Terrorverdächtigen, die nicht ausreisen dürften. Der Vorbestrafte sei vorher auch nicht durch Taten aufgefallen, die ihn in die Nähe von Terroristen gerückt hätten. Die Polizei kündigte an, kanadaweit ihre Präsenz zu erhöhen.

Die Mutter des erschossenen Attentäters hat den Opfern ihr Beileid bekundet. Sie weine um den getöteten Wachmann und die beiden Verletzten und nicht um ihren Sohn, sagte Susan Bibeau am Donnerstag.

Zwei Menschen wurden bei dem Vorfall durch Schüsse verletzt. „Kann man so etwas jemals erklären?“, sagte die Mutter während des kurzen und tränenreichen Telefongesprächs. „Es tut uns leid“. Der 32-jährige war den Ermittlern zufolge mehrfach vorbestraft und kürzlich zum Islam konvertiert. Er handelte als Einzeltäter, wie Polizeisprecher Marc Soucy bestätigte. Die Polizei war zuvor von mehreren Tätern ausgegangen.

Kanada vermutet hinter diesem und einem zweiten tödlichen Zwischenfall in dieser Woche Terrorangriffe wegen der Beteiligung des Landes am Kampf gegen die Extremisten-Miliz Islamischer Staat. Das Land ist mit acht Kampfjets an der internationalen Koalition gegen den IS beteiligt. Am Dienstag erhöhte Kanada die Terroralarmstufe von niedrig auf mittel, weil in letzter Zeit die allgemeine Kommunikation radikalislamischer Organisationen zugenommen habe.

Einzelheiten zu der Tat gibt es bislang noch nicht. Auch am Tag nach der Attacke sind viele Fragen noch ungeklärt. Nach und nach verdichtet sich vom Täter das Bild eines Menschen, der vom Islam angezogen war, von Bekannten aber auch als verwirrt bezeichnet wurde.

Erschossener Soldat war 24 und hatte einen sechs Jahre alten Sohn

Das Denkmal für die kanadischen Gefallenen aller Kriege steht gleich beim Regierungsgebäude in Ottawa, nur auf der anderen Seite der Straße. Am Mittwochmorgen schoss ein ganz in schwarz gekleideter Mann einen der beiden Ehrenwache stehenden Soldaten nieder. Dann reckte er Augenzeugen zufolge triumphierend seine Faust. Das Opfer, ein Reservist, starb Stunden später im Krankenhaus. Der Vater eines sechs Jahre alten Jungen wurde 24 Jahre alt.

Der Angreifer gelangte in das Parlament, durch dessen steinerne Gänge Dutzende Schüsse hallten. Premierminister Stephen Harper und die Chefs der drei anderen großen Parteien waren im Haus, wurden aber schnell in Sicherheit gebracht. Letztlich war es Medienberichten zufolge der Sicherheitschef des Parlaments selbst, der seine Pistole griff und den Mann niederschoss – unmittelbar vor dem Sitzungssaal. Bisher kannten die Kanadier nicht den Namen dieses Kevin Vickers, nur die Bilder, wenn er vor Parlamentssitzungen das alte Zepter in den Saal trägt. Jetzt ist der 58-Jährige ein Held.

„Ich denke, er war geisteskrank“

Und der Angreifer? Michael Zehaf-Bibeau soll er heißen und 32 Jahre alt sein. Er hat eine Vergangenheit mit Vorstrafen und Drogen. Das melden kanadische Medien, die Polizei sagt nichts. Zehaf-Bibeau wurde in Kanada geboren, soll aber auch einige Zeit in Libyen gewesen sein. Vom Islam habe er sich angezogen gefühlt und immer wieder eine Moschee besucht. Also ein hartgesottener Islamist, wie der Times-Square-Bomber in New York oder die Attentäter von Boston? „Ich denke, er war geisteskrank“, zitiert die „The Globe and Mail“ einen Freund von Zehaf-Bibeau. Er sei ihm nicht extremistisch erschienen, habe aber oft davon gesprochen, vom Teufel verfolgt zu werden.

Haben die kanadischen Sicherheitsbehörden versagt? Zehaf-Bibeau war als „Reisender mit hohem Sicherheitsrisiko“ eingestuft, ganz unbekannt war er also nicht. Laut CNN steht er auf einer Liste von 90 Personen, die wegen einer Terrorgefahr beobachtet werden. Auch der britische „Guardian“ schrieb von einem „spektakulären Versagen“ des Geheimdienstes. So habe Michel Coulombe, Direktor des Canadian Security Intelligence Service, erst vor zwei Wochen vor dem Parlament gesagt, die Gefahr terroristischer Anschläge sei real, es gebe aber kein Anzeichen für ein bevorstehendes Attentat.

Keine erhöhte Gefahr für Deutschland

Die Behörden sehen nach dem Anschlag keine erhöhte Gefährdungslage in Deutschland. Die Bundesrepublik „steht nach wie vor im Fokus des dschihadistischen Terrorismus“, sagte eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums am Donnerstag in Berlin. Daraus resultiere „eine abstrakt hohe Gefährdung für die innere Sicherheit, die jederzeit in Form von Anschlägen unterschiedlicher Dimensionen und Intensität real werden kann“.

Es lägen derzeit aber keine Hinweise auf konkrete Anschlagsplanungen vor, sagte die Sprecherin weiter. Eine besondere Gefahr gehe von radikalisierten Einzeltätern oder Rückkehrern mit Kampferfahrung aus.

Queen ist „schockiert“

Queen Elizabeth II., britische Königin und Staatsoberhaupt Kanadas, hat das Attentat verurteilt und den Betroffenen ihr Mitgefühl ausgesprochen. „(Prinz) Philip und ich waren schockiert und traurig über die Ereignisse in Ottawa“, teilte sie am Donnerstag mit. „Mit Gedanken und Gebeten sind wir bei den Betroffenen.“ Die kanadische Monarchie ist Teil des Commonwealth und die britische Königin auch Staatsoberhaupt der Kanadier. Der britische Premierminister David Cameron teilte über Twitter mit, er sei „entsetzt“ über den Anschlag.