Der Zusatzbeitrag fällt, Patienten sollen mehr Rechte erhalten: Die Vorstandschef der großen Krankenkassen sehen in einer Abendblatt-Umfrage die Große Koalition mit gemischten Gefühlen.

Hamburg Die gesetzlichen Krankenkassen begrüßen die Vereinbarungen der künftigen Großen Koalition zur Gesundheit. Vor allem die neue Regelung, dass die Kassen die Zusatzbeiträge prozentual vom Einkommen erheben können, stößt auf positive Resonanz. Damit ist der umstrittene pauschale Kopfbetrag von acht Euro im Monat Geschichte. Allerdings gibt es Kritik an Reformen in der Pflegeversicherung und Unverständnis über die Termingarantie, die die neue schwarz-rote Bundesregierung den Patienten für den Facharztbesuch geben will. Das sind die Ergebnisse einer Abendblatt-Umfrage unter den größten deutschen Kassen.

Der Vorstandschef der Techniker Krankenkasse, Jens Baas, sprach von einem „großen Schritt in die richtige Richtung“. Gleichzeitig warnte er: „Pflegebedürftigkeit ist hierzulande das größte Armutsrisiko, nur ist das den meisten Menschen leider gar nicht bewusst.“ DAK-Gesundheit-Chef Herbert Rebscher kritisierte, dass ein Kapital-Fonds für die Pflege „nicht der Weisheit letzter Schluss“ sein könne. „Wir haben doch in der Finanzmarktkrise am Beispiel der USA oder Kanadas erlebt, wie fragil kapitalgedeckte Sicherungssysteme sind.“

Beiträge zur Krankenversicherung

In Zukunft soll der Beitrag 14,6 Prozent vom Monatsbrutto betragen. Bisher sind es 15,5 Prozent. Zunächst hat also jemand mit 3000 Euro im Monat 27 Euro mehr im Portemonnaie. Je 7,3 Prozent zahlen dann Arbeitnehmer (und Rentner) und Arbeitgeber. Was die Krankenkassen darüber hinaus an Finanzmitteln benötigen, wird prozentual vom Einkommen abgezogen. Aber der Arbeitgeberanteil bleibt bei 7,3 Prozent. Der Vorstandschef der gesetzlichen Hanseatischen Krankenkasse (HEK), Jens Luther, ist froh, dass sich die SPD mit der Bürgerversicherung und der Abschaffung der Privaten nicht durchsetzen konnte. „Und dass Krankenkassen, die aus wirtschaftlichen Gründen auf höhere Einnahmen angewiesen sind, diese prozentual vom Einkommen erheben, ist sozialverträglicher. Denn wer mehr verdient, zahlt auch mehr.“

Der Hamburger Landesgeschäftsführer der Barmer GEK, Frank Liedtke, sagte, dass die Kassen jetzt wieder mehr Spielraum hätten. „Der Kompromiss ist akzeptabel, zumal der Gesundheitsfonds sich bewährt hat und erhalten bleiben soll.“ Liedtke fürchtet aber auch, dass analog zur Rente, wo die Beitragszahler die Mütterrente finanzieren sollen, die Regierung bei der Gesundheit kürzen könnte: „Wir fordern, dass der gesetzlich verankerte Bundeszuschuss von 14 Milliarden Euro für versicherungsfremde Leistungen in voller Höhe erhalten bleibt.“ Zum Beispiel für die Mitversicherung von Ehegatten und Kindern.

Barmer GEK, TK und DAK sind die größten Kassen. Sie haben zusammen über 20 Millionen Versicherte. Die TK und die HEK zählen außerdem zu den Finanzstarken. Die TK zahlt auch 2014 den Mitgliedern wieder eine Dividende von 80 Euro aus.

Müssen Arbeitnehmer Kostensteigerungen allein tragen?

Eine heikle Frage hat die Koalition vertagt. Warum bleibt der Beitrag der Arbeitgeber eingefroren? Müssen Arbeitnehmer allein in Zukunft die Kostensteigerungen in der Gesundheit zahlen, die mit Sicherheit kommen werden? Es soll eine Nebenabsprache zum Koalitionsvertrag geben, hat der SPD-Politiker Karl Lauterbach enthüllt. Danach soll der Anteil der Arbeitgeber doch steigen.

TK-Chef Baas sagte: „Die Schere zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen wird nicht beliebig auseinandergehen können.“ DAK-Vorstand Rebscher sagte, wer wie die Arbeitgeber in den Verwaltungsräten der Kassen mitreden wolle, der müsse auch Finanzverantwortung tragen: „Dies ist auch eine klare Forderung der DAK-Gesundheit.“ Barmer-GEK-Chef Liedtke fordert die vollständige paritätische Finanzierung: „Deshalb hätten wir uns hier mehr soziale Ausgewogenheit im Sinne der Versicherten gewünscht.“

AOK-Vorstand Günter Wältermann mahnte: „Zukünftige Kostensteigerungen können nicht allein zu Lasten der Versicherten gehen. Eine konstruktive Mitverantwortung der Arbeitgeberseite macht vor dem Hintergrund einer längeren Lebensarbeitszeit und dem Älterwerden unserer Gesellschaft Sinn.“

Mehr Geld für die Pflege

Der Beitrag zur Pflegeversicherung soll um 0,3 Prozentpunkte steigen, er wird zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern geteilt. Davon sollen 0,1 Prozentpunkte in einem Reservefonds bei der Bundesbank geparkt werden. Das stößt den meisten Krankenkassen sauer auf. Auch wenn alle die Erhöhung des Beitrages für bessere Pflege begrüßen, fragen sie: Warum am Kapitalmarkt Geld anlegen, das jetzt in der Pflege gebraucht wird? Fast wortgleich sagen die Kassenchefs Luther (HEK) und Baas (TK), dass jeder Einzelne mehr vorsorgen müsse als heute.

Über die private Pflegezusatzversicherung gehen die Meinungen jedoch auseinander. TK-Chef Baas betonte: „Natürlich müssen wir es uns leisten, pflegebedürftige Menschen zu versorgen, alles andere wäre inhuman. Das heißt aber auch, dass wir mehr Geld in die Pflege investieren müssen – und zwar nicht nur, was die Beiträge angeht, sondern auch in die Bezahlung der Pflegekräfte, die eine physisch wie psychisch sehr anstrengende Arbeit machen.“

Termingarantie beim Facharzt

Die künftige Bundesregierung will allen Krankenversicherten binnen vier Wochen einen Termin beim Augenarzt, Orthopäden oder Hautarzt garantieren. Klappt das nicht, sollen die Patienten ins Krankenhaus gehen dürfen. Dafür müssen dann die Kassenärztlichen Vereinigungen mitbezahlen. HEK-Chef Luther glaubt: „Kein Arzt hat Interesse an langen Wartezeiten. Ich halte diese Vereinbarung für Populismus.“ Auch DAK-Chef Rebscher glaubt nicht, dass das praktikabel ist. Seine Kasse und viele andere bieten schon heute einen Terminservice an. TK-Chef Baas nennt den Plan wohlwollend „gut gemeint“.

Mehr Rechte für Patienten

Baas ist aber positiv angetan von Verbesserungen für Patienten, beispielsweise das verbriefte Recht auf eine Zweitmeinung oder neue Angebote für Patienten, die aus dem Krankenhaus entlassen werden. Außerdem sollen Angehörige von Pflegebedürftigen eine zehntägige Auszeit nehmen können und Lohnersatz bekommen. DAK-Mann Rebscher sieht einen „roten Faden“ zu mehr Qualität im Koalitionsvertrag. AOK-Vorstand Wältermann sagte: „Ausgesprochen positiv für die Versicherten ist die verstärkte Qualitätsorientierung in der Gesundheitsversorgung und die Stärkung der Rechte der Patienten insgesamt.“

HEK-Vorstandschef Luther macht auf einen Punkt aufmerksam, der auch in Hamburg immer brisanter wird, weil die Bürger in ärmeren Stadtteilen von der Durchschnittsversorgung abgekoppelt zu werden drohen. Luther sagte, es gebe durch den Koalitionsvertrag neue Anreize, Arztpraxen in unterversorgten Gebieten zu eröffnen.