Erste große Demo nach dem Urteil gegen “Pussy Riot“ verläuft friedlich. Die Opposition ist zu zerstritten, um den Präsidenten zu gefährden.

Moskau. Alexej ist einfach nur so gekommen. Er hat kein Transparent gemalt, er hat auch nichts gebastelt, er hat sich nicht verkleidet. Und nein, er gehöre auch keiner Partei an. Nicht den Liberalen, nicht den Linken, nicht den Anarchisten, auch nicht den Nationalisten. Alexej demonstriert, weil er Bürger ist. Und weil er sich eine andere Politik wünscht. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Vielleicht fällt er an diesem Nachmittag in der Moskauer Innenstadt gerade deshalb so auf - zwischen den ganzen Flaggen der Organisationen, den bunt bemalten Plakaten, den Luftballons, den Parteiparolen und Flugblättern.

Erstmals nach der Sommerpause, und erstmals nach dem harten Gerichtsurteil gegen die Punkband „Pussy Riot“, gingen die Menschen an diesem Sonnabend wieder auf die Straße. Ihre Forderungen sind die gleichen – und wie bei den Protesten im Mai und im Juni haben sie Transparente gemalt: „Für faire Wahlen“, „Gegen politische Repressionen“ und für ein „Russland ohne Putin“.

Der dritte „Marsch der Millionen“ war vor allem in Moskau mit Spannung erwartet, etliche Reporter und Kamerateams waren vor Ort. Auch nach seiner Wiederwahl im März regiert Präsident Wladimir Putin das Land mit harter Hand. Der Prozess gegen „Pussy Riot“, die für ihren Auftritt in der Moskauer Christi-Erlöser-Kathedrale für zwei Jahre hinter Gitter müssen, war nur das medienwirksamste Beispiel der autoritären Politik der russischen Regierung.

Seit Kurzem werden nichtstaatliche Organisationen als „ausländische Agenten“ eingestuft, sobald sie für ihre Arbeit Geld aus dem Ausland erhalten. Ihre Rechte werden eingeschränkt. Ein Gesetz zur Bekämpfung sogenannter „schädlicher Seiten im Internet“ führt laut Kritikern zu einer Zensur. Die russische Wikipedia-Seite ging aus Protest gegen den Erlass mehrere Tage vom Netz. Auch die Strafen für die Organisatoren von „illegalen Demonstrationen“ wurden deutlich verschärft, Oppositionelle festgenommen und von der Polizei verhört.

Wer an diesem Sonnabend zur Demonstration auf dem Moskauer Boulevardring will, muss durch Sicherheitskontrollen mit Metalldetektoren, gleich zu Beginn teilen Polizisten den Zug in ein linkes und ein rechtes Lager ein. Dixie-Toiletten stehen am Straßenrand. Detektoren und Toiletten – beides ein übliches Bild auf russischen Demonstrationen. Polizisten sperren die Nebenstraßen ab. 7000 Polizisten und Soldaten sollen an diesem Tag den Zug der Protestierenden sichern. Die Behörden hatten 25.000 Teilnehmer genehmigt.

Unter den Demonstranten ist auch Gennadi Gudkow. Erst am Tag zuvor hatte das Parlament dem bekannten Kreml-Kritiker sein Mandat als Abgeordneten entzogen. Offiziell wird der Ausschluss Gudkows mit Ermittlungen wegen mutmaßlicher Steuerhinterziehung und Geldwäsche begründet. Doch viele vermuten dahinter die Strafe für seine kritische Haltung gegenüber dem Präsidenten.

Bei der Abschlusskundgebung auf der Bühne am Sacharow-Prospekt stehen die bekannten Gesichter der Opposition: der Blogger Alexej Nawalny, das frühere Regierungsmitglied Boris Nemzow, Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow, die Umweltaktivistin Jewgenja Tschirikowa. Etliche weitere Oppositionelle halten Reden für ihre Gruppe. Sie wiederholen die Parolen der Plakate, am Ende verlesen die Organisatoren eine Resolution mit wenig konkreten Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und politischen Reformen. Und sie sprechen von 100.000 Teilnehmern.

Die Behörden zählen 14.000 Menschen auf dem Boulevard. Eine Zahl, die auch unabhängige Gruppen gegenüber dem Abendblatt bestätigen. Die Demonstration ist ein kräftiges Symbol all derer, die sich von den Repressionen nicht haben einschüchtern lassen, die Wut gegen Putin zeigen sie ohne Gewalt, aber dafür mit viel Kreativität. Aber der Protest am Sonnabend zeigt auch, dass die Opposition im Moment zu schwach ist, um Putins Macht ernsthaft zu gefährden. Und er wirft die Frage auf, wie lange der gemeinsame Feind Putin die verschiedenen Gruppen und Parteien noch zusammenhält.

Viele, die noch im Frühjahr auf die Straße gingen, bleiben diesmal zuhause. Wer mit Teilnehmern spricht, hört Zweifel an der Strategie der Opposition. Erstmals laufen auch die Kommunisten offiziell auf der Demonstration mit, wenige Meter Luftlinie entfernt von Nationalisten und Neonazis, etwas weiter vorne die Verbände der Schwulen und Lesben und die Liberalen. Was sie eint, ist vor allem die Forderung von einem Russland ohne Putin. Doch was auf seine Herrschaft folgen soll, ist so verschieden wie die Farben ihrer Fahnen. Dazwischen demonstrieren auch Lehrer, Anwälte und einige Künstler mit. Nicht nur Studenten, auch ältere Menschen stehen vor der Bühne. Doch prägen diese Bürger nicht das Bild des Protests.

Der „Marsch der Millionen“ sei dominiert von den extremistischen Kräften, kritisiert der Vorsitzende der liberalen Partei Jabloko. Seine Partei ist auf dem Boulevard kaum vertreten. Und auch der frühere Präsidentschaftskandidat und Milliardär Michail Prochorow bleibt dem „Marsch“ fern. In St. Petersburg hatte die Opposition drei Demonstrationen angemeldet, weil sie sich nicht auf ein gemeinsames Programm einigen konnte.

Ende Oktober will die Opposition einen Koordinationsrat wählen. Politiker wie der frühere Duma-Abgeordnete Wladimir Ryschkow befürchten, dass dies die Anti-Putin-Koalition spalten werde.

„Die Transformation in Russland steht erst am Anfang. Es wird noch Jahre dauern, die Opposition in eine starke politische Kraft zu bündeln“, sagt der Journalist Andrej Kolesnikov von der regierungskritischen Zeitung „Nowaja Gazeta“ dem Hamburger Abendblatt. Es käme nun vor allem darauf an, dass die Führungskräfte der Opposition, Politiker wie Nawalny, eine Partei etablieren, die sich geschlossen zeige und eine starke Basis aufbaue. Die Demonstrationen, wie die am Wochenende, könnten nur ein Gefühl in einem Land verändern. Das sei wichtig für die Etablierung einer Zivilgesellschaft. „Am Ende entscheiden aber nur Wahlen die Politik in Russland“, sagt Kolesnikov.

Und Wahlen stehen Mitte Oktober an. Die Russen entscheiden über einige Gouverneure und Bürgermeister in einigen Regionen des Landes. Zumindest die Linke hat bis dahin bereits weitere Proteste angekündigt. Wer sich anschließt, ist bisher offen. Auch ob sich dann wieder mehr Menschen aus der russischen Mittelschicht beteiligen, bleibt fraglich.

Menschen wie Alexej. Auch er findet es aber wichtig, viele Gruppen in den Protest gegen Putin einzubinden. Die Wucht der Proteste sei ein wichtiges Zeichen. Doch Alexej betont auch seine Unabhängigkeit, abseits aller Parteien. „Ich bin Ultrazentralist.“ Eine Flagge brauche er dafür nicht.