Dominique Strauss-Kahn wird nicht mehr wegen Vergewaltigung angeklagt. Doch rehabilitiert ist der ehemalige IWF-Direktor nicht.

Berlin. Gestern durfte Dominique Strauss-Kahn seine elektronische Fußfessel ablegen. 102 Tage nachdem er auf dem New Yorker John-F.-Kennedy-Flughafen in einer startbereiten Air-France-Maschine verhaftet worden war, erhielt der Franzose seinen Pass zurück und war damit wieder ein freier Mann.

Diese Entwicklung war erwartet worden, nachdem die New Yorker Staatsanwaltschaft am Montag selbst beantragt hatte, die Vergewaltigungs-Anklage gegen den ehemaligen Chef des Internationalen Währungsfonds fallenzulassen. In einem 25-seitigen Papier hatte der leitende Staatsanwalt Cyrus Vance erklärt, die Klägerin habe gegenüber den Ermittlern wiederholt falsche Angaben zu ihrem Leben, ihrer Vergangenheit und ihrem Verhalten nach dem Zusammentreffen mit Strauss-Kahn gemacht. Wörtlich: "In nahezu jeder Befragung der Ermittler hat sie trotz der Aufforderung, die Wahrheit zu sagen, in kleinen und großen Angelegenheiten nicht die Wahrheit gesagt." Die 32-jährige Nafissatou Diallo sei eine "notorische Lügnerin". Da aber der Fall gegen den einst mächtigsten Banker mit der Aussage dieser einzigen Zeugin "steht und fällt", gebe es keinen anderen Weg, als die Anklage zurückzuziehen. "Wenn wir ihr nicht zweifelsfrei glauben", so Vance, "dann können wir das nicht von einer Jury erwarten."

102 Tage hat der Fall die Welt beschäftigt. 102 Tage lang haben sich Freund und Feind in die Schlacht geworfen und dabei vor allem ihre Sicht der Dinge zum Besten gegeben. Für die einen war "DSK" das Opfer einer politischen Verschwörung, für die anderen war der 62-Jährige ein "dirty old man", den es zu Recht erwischt hatte. Jeder sah, was er sehen wollte. Übrigens auch in der Klägerin. Immerhin: Mehr als drei Monate nach seiner spektakulären Verhaftung steht es Dominique Strauss-Kahn jetzt wieder frei zu gehen, wohin er will. Rehabilitiert ist er jedoch nicht. Diallo hat inzwischen Zivilklage wegen sexueller Nötigung erhoben.

Frankreichs Sozialisten, die ihren Strauss-Kahn im April gern als Sarkozy-Herausforderer in die anstehenden Präsidentschaftswahlen geschickt hätten, haben gestern trotzdem vom Ende eines Albtraums gesprochen. Bei aller Erleichterung darüber, endlich wieder ein freier Mann zu sein, wird Strauss-Kahn das vermutlich anders sehen. Sein Ruf ist gründlich ruiniert. Er musste nicht nur hinnehmen, dass sein Sexualverhalten in Frankreich diskutiert wurde, sondern auch, dass er für die Weltöffentlichkeit von einem Tag zum anderen nur noch als "brünstiger Schimpanse" galt. Nicht etwa Diallo hat ihn so bezeichnet, sondern Tristane Banon, die Tochter einer engen Freundin der Familie. Kein guineisches Zimmermädchen, sondern eine Schriftstellerin aus der Pariser Hautevolee. Banon hat im Juli Strafanzeige gegen Strauss-Kahn wegen versuchter Vergewaltigung erstattet. Sie wirft ihm vor, sie 2003 während eines Interviews sexuell belästigt zu haben.

Als Dominique Strauss-Kahn am 14. Mai in New York in Handschellen aus der Air-France-Maschine geholt wurde, wartete man in Deutschland noch auf das Kachelmann-Urteil, auch hier ging es um eine mutmaßliche Vergewaltigung. Und was der Kachelmann-Fall im Kleinen abgebildet hatte, wiederholte sich in der Affäre Strauss-Kahn im Großen: Aussage stand gegen Aussage, erst wurde das Vorleben des Angeklagten öffentlich durch die Mangel gedreht, dann das der Klägerin, und am Ende waren beide furchtbar beschädigt. Jörg Kachelmann ist am 31. Mai aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden. "In dubio pro reo", im Zweifel für den Angeklagten. Seit Aristoteles gilt dieses Rechtsprinzip, das dem Beschuldigten zwar zur Freiheit, aber nicht zur Rehabilitierung verhilft.

Recht und Gerechtigkeit sind juristisch eben sehr verschiedene Dinge. Schuld und Sühne sind hingegen auch Kategorien der Moral, über die im Fall Strauss-Kahn viel, streckenweise sogar heftig diskutiert wurde. Mit Dominique Strauss-Kahn, hieß es, habe es den Richtigen erwischt - ganz unabhängig davon, ob er Diallo nun vergewaltigt, genötigt oder nur erfolgreich zur Durchsetzung seines Ziels eingeschüchtert habe: Strauss-Kahn müsse nun für die vielen sexuellen Übergriffe büßen, die er sich vorher im Bewusstsein seiner Macht geleistet habe. Nach dem Motto: Geschieht ihm ganz recht. Und in Frankreich debattierte man nach anfänglicher Schockstarre die Frage, ob sich eine Gesellschaft ändern müsse, die solche Übergriffe bis dato als irgendwie charmant beziehungsweise sehr französisch toleriert hatte.

Wo die Wahrheit im Fall Dominique Strauss-Kahn wirklich liegt, wissen nur DSK und Diallo allein. Jeder kann das Opfer sein. Unterschiedlich war nur die Fallhöhe.