Die Politik verabschiedet eine Maßnahme nach der nächsten im Kampf gegen Rechtsextremismus. Doch wie nachhaltig ist dieses Engagement?

Hamburg. Das politische Geschäft funktioniert vor allem mit dem Kurzzeitgedächtnis. Politiker benötigen ein gutes Kurzzeitgedächtnis im Alltag zwischen Fachausschuss, Bundestag, Wahlkreis und Pressekonferenz. Es hilft den Politikern und gleichsam den Journalisten zu reagieren auf aktuelle Krisen, schnell alles Wichtige zu ebendieser Krise zu sammeln, um am Ende einen Forderungskatalog in Kameras zu proklamieren oder einen Kommentar zu schreiben. Euro-Gipfel, Steuersenkung, Afghanistan-Einsatz in den Nachrichten, in Onlineportalen und sozialen Netzwerken, in Twitter - die Rastlosigkeit und Dauerbeschallung verdrängt das Erinnern aus dem Politischen. Wer nur Handlungsfähigkeit demonstrieren will, braucht keinen langen Atem. Der behindert eher. Das politische Kurzzeitgedächtnis ist im günstigen Fall entlarvend. Im schlimmen Fall kann es tödliche Folgen haben.

Als vor ein paar Wochen durch einen Zufall entdeckt wurde, dass Neonazis in Deutschland über Jahre unbehelligt Mitmenschen ermorden konnten, war schnell klar, dass ein Kurzzeitgedächtnis nicht ausreichen wird, um dieses Staatsversagen zu bewältigen. Doch bei vielen Politikern funktionierte das Umschalten auf das Langzeitgedächtnis nicht sonderlich gut. "Unüblich" nannten Minister dieses Landes die Mordserie zunächst, zeigten sich "überrascht". Die Überraschung mag echt sein - nur ist sie Ausdruck einer überhasteten Branche Politik, inklusive dazugehöriger Berichterstattung.

War da nicht noch ein Attentäter namens Anders Breivik, der aus rassistischen Motiven 77 Menschen in Norwegen umbrachte? Ein halbes Jahr zurück - so viel Erinnern hätte ausgereicht, um die Dimensionen zu verstehen, mit denen wir es bei rechtsextremer Gewalt zu tun haben. Vor 20 Jahren entkamen Vietnamesen in einem Wohnhaus in Rostock-Lichtenhagen nur knapp einem rechtsradikalen Mob an Schlägern, es gab weitere Anschläge in Mölln und Solingen. Menschen wurden ermordet. Durch Deutschland zogen Lichterketten. Doch mehr als ein Jahrzehnt später waren die Lichter erloschen, kaum jemand kümmerte noch der Rechtsextremismus. Das sicherheitspolitische Kurzeitgedächtnis Deutschlands konzentrierte sich auf andere Themen: islamistischer Terror, Vorratsdatenspeicherung, Lauschangriff.

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Lichtenhagen, Mölln, Solingen. Die Erinnerung verschwamm - oder sie wurde aus politischen Interessen bewusst beiseitegedrängt. Ein paar Wochen vor Bekanntwerden der rechtsextremistischen Morde verhängte Familienministerin Kristina Schröder (CDU) eine "Extremismusklausel". Organisationen, die sich für Toleranz und Demokratie und gegen Neonazis einsetzen, müssen ein Bekenntnis gegen linke Extremisten in ihren eigenen Reihen ablegen. Sofern sie Geld vom Bund erhalten wollen.

Dabei sind es auch diese Gruppen, die dem Versagen von Politik und Medien ein Erinnern entgegengestellt haben. Sie sind die Wächter der Demokratie, wenn die Politik schläft. Über viele Jahre haben Initiativen und antifaschistische Gruppen nicht vergessen, dass es gewaltbereite Rechtsextreme in Deutschland gibt. Und dass sie losschlagen. Fast 150 Tote durch rechte Gewalt gab es seit der Wende.

Eine Klausel stellt all die unter Generalverdacht, die vielfach ihre Freizeit aufgeben und sich gegen Neonazis engagieren - weil die öffentlichen und privaten Mittel häufig nicht ausreichen für langfristige und vernünftig bezahlte Stellen. Stattdessen sät der Vorstoß Misstrauen, wo Vertrauen bitter nötig ist.

Der Verein "Laut gegen Nazis" begann mit den Planungen der Kampagne "Hamburg steht auf!" weit bevor Deutschland von den Morden des "Nationalsozialistischen Untergrunds" erfuhr. Sie lassen sich nicht durch staatliche Mittel aus Schröders Ministerium fördern. Dafür braucht der Verein private Geldgeber: Sponsoren, werbewirksame Gesichter, Marken. Konzerne unterstützen die Kampagne, auch Prominente saßen auf der Pressekonferenz. Es ist noch immer nicht leicht, sein Gesicht im Kampf gegen Neonazis in die Kameras zu halten. Mehrere Unternehmen scheuten nach Angaben von "Laut gegen Nazis" das Engagement gegen Rechtsextremismus, weil sie Verärgerung der Kunden und finanzielle Einbußen befürchteten. Und doch: In den Wochen nach den Nachrichten aus Zwickau war es in Deutschland nie leichter, sich gegen Rechtsextremismus öffentlich zu engagieren. Die Kampagne und die "Internationalen Wochen gegen Rassismus" sind wichtig - entscheidend ist jedoch, welche Initiativen, welche Unternehmen, welche Stars sich auch in einem Jahr gegen Neonazis engagieren. Wird Lotto King Karl auch bei der nächsten Kampagne auf dem Podium sitzen? Sicher ist nur, dass er beim nächsten Heimspiel des HSV wieder sein Lied vor der Kurve singen wird: "Wenn du aus Cottbus kommst, kommst du eigentlich aus Polen", heißt es da. Was ironisch gemeint ist, wird dummerweise gern missverstanden.

Privates Kapital, sei es Geld von Unternehmen oder das Gesicht eines Sängers, ist wichtig. Ohne Frage! Es darf aber nicht von der langfristigen Förderung "stiller" Aktivisten gegen Rechtsextremisten ablenken.

Da ist vor allem der Staat gefragt, denn oftmals sind die Ergebnisse mühsamer Arbeit für Sponsoren wenig "vermarktungskompatibel". Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) ist Schirmherr der Kampagne "Hamburg steht auf!". Messen aber wird man Scholz daran, wie erfolgreich das angekündigte Landesprogramm gegen Rechtsextremismus unter Mitwirkung der Innenbehörde werden wird - und daran, in welchem Klima Bündnisse gegen Neonazis in dieser Stadt arbeiten können, wenn sie keine Pressekonferenz im Rathaus veranstalten.

Etwas Wertvolles hat die Kampagne "Hamburg steht auf!" schon erreicht: An vielen Stellen der Stadt, an Tresen von Kiosken, in Vereinsheimen, an den Computern in Firmen kleben schon Aufkleber mit dem Slogan der Kampagne. Es kann für die Menschen eine Erinnerung sein: Vergesst nicht die Taten von Mölln, Solingen, Lichtenhagen und die Morde der Rechtsextemisten aus Thüringen und anderswo! Die Aufkleber können uns aufmerken lassen, welche Worte wir benutzen, wenn wir über Rechtsextremismus reden. Sprechen wir von einem "Terror-Trio", wenn es doch viele Unterstützer für die Mörder gab? Reden wir von einer "rechten Szene", wenn es doch um eine antisemitische und ausländerfeindliche Bewegung geht, deren Argumente heute Anschluss finden an die Mitte der Gesellschaft? Passieren uns fatale Verirrungen wie bei dem Begriff "Döner-Morde" noch einmal?

Die Politik und die Medien müssen ihr Langzeitgedächtnis wieder besser trainieren. Ministerinnen müssen wieder aussortieren, was Wahlkampf, Parteiprofilierung oder Meinungsmache ist. Und was die Grundfesten unserer Demokratie am Ende zusammenhält. Medien werden in einem Jahr prüfen müssen, ob aus Forderungen auch Gesetze gegen Extremisten von rechts erwachsen sind. Daran wird man Journalisten messen.

Und der Bürger? Auch er trägt Verantwortung, mehr, als er wahrhaben möchte: mit einer klaren Haltung gegen rechtsextreme Meinungen in seinem Alltag. Der Aufkleber am Schreibtisch ist ein Anfang.