Wegen seiner Hartz-IV-Kritik hat Kanzlerin Merkel FDP-Chef Westerwelle in die Schranken gewiesen. Zu Unrecht, glaubt er und legt erneut nach.

Berlin. Kanzlerin Angela Merkel hat ihr Schweigen zu der von FDP-Chef Guido Westerwelle angefachten Diskussion über die Grenzen des Sozialstaats gebrochen. Unmittelbar vor einem Sechs-Augen-Gespräch mit ihm und dem CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer am Mittwochabend im Kanzleramt kritisierte die CDU-Vorsitzende den Vizekanzler. Westerwelle habe seine Kritik an Hartz IV so formuliert, als bräche er ein Tabu. Er habe dabei aber inhaltlich nur Selbstverständliches ausgesprochen, sagte Merkel der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Vizekanzler Westerwelle hatte mit seiner Warnung vor „spätrömischer Dekadenz“ in der Hartz-IV-Debatte für Unmut in der Union gesorgt. Merkel hatte ihn zur Mäßigung im Tonfall gemahnt.

Merkel betonte nun: „Für alle Mitglieder der Bundesregierung ist es selbstverständlich, dass jemand, der arbeitet, mehr bekommen muss, als jemand, der nicht arbeitet.“ Darüber herrsche große Übereinstimmung, bis in die Oppositionsparteien hinein. „Selbstverständliches sollte selbstverständlich bleiben, damit man in der Sache zu guten Ergebnissen kommen kann“, sagte Merkel. Die von Westerwelle geforderte Verschärfung von Sanktionen bei einem Missbrauch von Hartz-IV-Leistungen lehnte die Kanzlerin ab. Die deutsche Rechtslage zu den Sanktionsmöglichkeiten bei Pflichtverletzungen von Langzeitarbeitslosen zähle „schon heute zu den strengsten in der EU“, sagte sie.

Das Treffen der Koalitionsspitze endete gestern nach rund drei Stunden. Ergebnisse des Gesprächs wurden zunächst nicht bekannt. Die Kanzlerin, ihr Vizekanzler und Seehofer verließen das Kanzleramt in getrennten Fahrzeugen. Westerwelle bewertete das Spitzentreffen positiv. „Das Gespräch war sehr konstruktiv, sachlich und ruhig“, sagte Westerwelle unmittelbar danach. „Von der Energie- bis zur Sozialpolitik wurde ein kompletter Themenkreis angesprochen. Man sieht sich wieder im März.“

In einem Beitrag für die Zeitung „Die Welt“ wies Westerwelle Merkels Kritik an seinem Diskussionsstil jedoch zurück. „Diese Diskussion ist in Deutschland überfällig und leider alles andere als selbstverständlich“, schrieb er in einem Gastbeitrag für die Tageszeitung „Die Welt“. Er forderte „einen treffsicheren Sozialstaat“. Mit Blick auf die Kritik an seinen Äußerungen schreibt Westerwelle weiter: „Wenn die Kritiker dann sehen, dass diese Debatte bei einer sehr großen Mehrheit der Bevölkerung ebenfalls als notwendig und angemessen angesehen wird, konzentrieren sie sich auf die Tonalität. Nach der Methode: Er hat ja eigentlich Recht, aber so deutlich muss er es doch nicht sagen.“

Der Ton in der Koalition bleibt also rau - trotz des Krisentreffens am Mittwochabend. Das Gespräch war das zweite dieser Art seit dem Start der schwarz-gelben Regierung. Eine Art Stillhalteabkommen bei der ersten Runde vor fünf Wochen hatte nur wenige Tage gehalten. Allgemein herrscht in der Koalition die Erwartung, dass der öffentliche Dauerstreit eingedämmt werden müsse. So wollten die Parteispitzen auch über die Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze und bessere Zuverdienstmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose sprechen.

Doch nicht nur Hartz IV sorgt weiter für Zündstoff in der Koalition strittig, sondern auch die geplante Gesundheitsreform. Das Kabinett benannte am Mittwoch die acht Minister, die das Reformkonzept ausarbeiten sollen. Die CSU verband damit die Hoffnung, dass die Kommission die von der FDP angestrebte Kopfpauschale umgehend zu den Akten legt.

Die CSU entwickele sich in der Koalition zur „Nein-Partei“, hieß es daraufhin aus der engen FDP-Spitze. „Wenn die CSU gegen eine Gesundheitsreform ist, dann gehen ab jetzt Gesundheitsfonds, Kostensteigerungen, Zusatzbeiträge und Praxisgebühr auf ihr Konto“, hieß es. „Konstruktive Vorschläge, die Annahme fachlicher Argumente oder auch nur ein Bewusstsein für die Probleme des Gesundheitssystems sind von CSU-Granden nicht bekannt“, wurde kritisiert.