Steffen Schwietzer

Hamburg

Die These des brandenburgischen Innenministers Jörg Schönbohm (CDU), wonach "die von der SED erzwungene Proletarisierung" in der DDR eine der Ursachen für Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft und damit auch verantwortlich für die Tötung von neun Neugeborenen durch ihre Mutter sei, ist auch in seiner eigenen Partei auf massive Kritik gestoßen. CDU-Chefin Angela Merkel wies Schönbohm zurecht und erwartete von ihm, "daß er die Diskussion beendet". Dieses Verbrechen sei nicht mit "pauschalen Einschätzungen" zu erklären. Schönbohm entschuldigte sich gestern abend für seine These. Er habe niemanden kränken oder verletzen wollen. Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) will weiter an seinem Innenminister festhalten.

Abgesehen von der Kritik aus den Reihen der Politiker aller Parteien geht die Schönbohmsche Kriminalitätstheorie auch einigen Wissenschaftlern zu weit.

Der Soziologieprofessor Dr. Heinz Sahner von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg verneint den Zusammenhang von Proletarisierung und Gewaltbereitschaft. Wenngleich er Schönbohm in dem Punkt "stärkere Zwangsproletarisierung in ländlichen Gebieten" Recht gibt, differenziert der gebürtige Sudetendeutsche: "Die ländlichen Bereiche sind mit Sicherheit stärker landwirtschaftlich enteignet worden als die Städteregionen." Nur bleibt Herr Schönbohm dabei den Zusammenhang mit dem höheren Gewaltpotenzial in der brandenburgischen Provinz schuldig. Das müßte erst empirisch untersucht werden. Aus theatralischen Einzelfällen ist diese Einfaktor-These nicht abzuleiten."

Vielerlei bedinge einen solchen Mord. "So einfach ist die Welt nicht", sagte Professor Sahner im Gespräch mit dem Abendblatt. Auch das Umfeld, die finanzielle Situation der Täterin und besonders der Faktor Arbeitslosigkeit seien ausschlaggebend. "Wenn man dennoch den Verfall der Werte als Folge der DDR-Kollektivierung konstatiert, dann tut Herr Schönbohm mit dieser Pauschalisierung den Familien unrecht."

Im Osten sei der Zusammenhalt in den Familien viel stärker, was aus bekannten ALLBUS-Studien der letzten Jahre hervorgehe. Psychologisch seien die Äußerungen Schönbohms "ein Tritt in den Rücken der Menschen". Politisch hätten sie kaum eine Auswirkung auf den Wahlausgang, so Sahner.