STUDIE der Techniker Krankenkasse: Wer keinen Job hat, leidet oft unter Existenzangst und lebt ungesund.

Hamburg

"Unsere Bestimmung ist Tätigkeit", schrieb Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Heute wissen gut fünf Millionen Deutsche nur zu gut, was der berühmte Philosoph damit gemeint hat. Wer nämlich keinen Job hat, beginnt an seiner Bestimmung zu zweifeln. Und viele werden über diese Zweifel krank. Das hat jetzt erstmals eine Krankenkasse nach einer Erhebung der Krankenstandsdaten ihrer Mitglieder nachweisen können.

Für den "Gesundheitsreport 2005" der Techniker Krankenkasse (TK) haben Experten die Krankenstandsdaten für Berufstätige und Arbeitslose getrennt analysiert. "Das Ergebnis", so TK-Sprecherin Michaela Speldrich, "war erschütternd. Denn Arbeitslosigkeit macht die Menschen sehr krank. Vor allem psychisch krank."

Der TK-Bericht zeigt: Arbeitslose sind im Schnitt 15,1 Tage im Jahr krankgeschrieben. Berufstätige 11,2 Tage. Der Anteil psychischer Erkrankungen ist bei Arbeitslosen viel höher als bei Berufstätigen: Jede dritte Krankschreibung geht bei Menschen ohne Job auf eine solche Diagnose zurück; bei Berufstätigen ist es nur jede neunte. Zudem bekommen Arbeitslose erheblich mehr Medikamente verordnet: Im Schnitt 170 Tagesdosen.

"Das Volumen ist erschreckend hoch", so Speldrich. "Es zeigt, daß Arbeitslose ein Arzneivolumen verschrieben bekommen, das statistisch gesehen dazu ausreicht, daß jeder Zweite täglich ein Medikament einnimmt." Die verschriebene Medikamentenmenge für Berufstätige reicht dagegen nur, um an 144 Tagen eine empfohlene Ration einzunehmen.

Thomas Lampert, Epidemologoge am Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin, überraschen die Daten nicht. Das RKI führt regelmäßig Studien über den Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Krankheit durch. "Wir haben festgestellt, daß sich auch gesundheitsschädliche Verhaltensweisen von Arbeitslosen und Berufstätigen stark unterscheiden", berichtet Lampert. "So rauchen 49 Prozent der arbeitslosen Männer täglich. Bei den Berufstätigen machen das nur 34 Prozent. Wöchentlich eine Stunde Sport treiben 30 Prozent der Arbeitslosen, aber 40 Prozent der Berufstätigen. Menschen, die ein Jahr oder länger ohne Job sind, geben viermal häufiger als Berufstätige an, bei schlechter Gesundheit zu sein."

Die Gründe dafür sehen Experten vor allem im Gefühl, vom normalen gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu sein, einen sozialen Abstieg zu erleben. "Dadurch entsteht psycho-sozialer Streß", sagt Lampert. "Und Streß hat erhebliche Auswirkungen auf die psychische und auf die körperliche Gesundheit." TK-Sprecherin Speldrich ergänzt, daß auch der Existenzdruck erheblich zugenommen habe. "Durch Hartz IV sehen viele ihre Existenzgrundlage noch stärker gefährdet. Die Angst vor dem sozialen Abstieg macht regelrecht krank."

Mit Menschen, die solche Sorgen bedrücken, spricht Katja Peters täglich. Peters ist Mitarbeiterin der Arbeitslosen-Telefonhilfe (ATH) in Hamburg. "Die Tendenz, daß Krankheiten bei Arbeitslosen zunehmen, kann ich voll bestätigen", sagt sie. Die Gründe sind ihrer Ansicht nach im Wert von Arbeit an sich zu finden. "Unser Selbstbewußtsein ist auf wenigen tragenden Säulen gestützt. Eine sehr zentrale davon ist Arbeit. Bricht die weg, brechen auch Akzeptanz und Bestägigung durch die Gesellschaft weg. Menschen ohne stabiles Umfeld fallen dann in ein sehr tiefes Loch."

Die Folgen sind psychische Krankheiten. Ausgelöst durch Selbstzweifel, Existenzangst und dem Gefühl des Ausgeliefertseins. Ein Beleg dafür: 2004 wurden 3,2 Prozent der Berufstätigen Psychopharmaka verschrieben. Mit 5,7 Prozent erhielten diese Mittel aber fast doppelt so viele Arbeitslose. Die TK fordert deshalb, die Anstrengungen "deutlich zu erhöhen, diesen Menschen zu helfen".

"Die Angst vor dem sozialen Abstieg macht regelrecht krank." TK-Sprecherin Speldrich