Die Nacht mit Kälte und Regen brachte eine erlösende Nachricht. Der geständige Sexualstraftäter Mario M. verließ am frühen Donnerstagmorgen seinen Platz auf einem Dach der Dresdner Justizvollzugsanstalt, auf das er sich gut 20 Stunden zuvor mit einer spektakulären Kletteraktion geflüchtet hatte.

Zermürbungstaktik der Polizei bei Psychologengesprächen sowie Kälte und Regen ließen ihn letztlich aufgeben. Die Beamten trugen in dem Nervenkrieg einen Sieg davon. Ein Ziel erreichte der 36-Jährige dennoch: Er traf sein Opfer und dessen Familie, die sichtlich von Angst gezeichnet und wieder einmal fassungslos ob einer Behördenpanne waren.

Zunächst blieb zudem offen, ob Mario M. am heutigen Donnerstag erneut vor seine Richter treten muss. Eigentlich war für 9 Uhr der zweite Verhandlungstag im Stephanie-Prozess vor dem Dresdner Landgericht angesetzt. Über eine Verschiebung der Verhandlung kann nur die zuständige Kammer entscheiden. Ob Mario M. hofft, dass er nach den mehr als 20 Stunden auf dem Dach eine Schonfrist bekommt, darüber kann genauso wie über die Motive seiner Kletteraktion nur spekuliert werden. Die Polizei hielt sich bedeckt. Auch über das Gespräch des Angeklagten mit seinem Verteidiger, das es den frühen Morgenstunden gegeben haben soll, drang nichts an die Öffentlichkeit.

Mario M. hatte sich den ganzen Mittwoch über bis zum Einbruch der Dunkelheit aufrecht auf dem Dach der JVA gezeigt - nahezu provokant demonstrierte er seine Körperkraft. Vermutlich wohl wissend, dass Dutzende Fernsehkameras und Teleobjektive auf ihn gerichtet waren. Von der Stimmung der Schaulustigen und Journalisten vor dem abgeriegelten Gefängnis dürfte er nichts mitbekommen haben. Immer wieder fragten sich Beobachter der Szenerie, weshalb die Polizei dem Spektakel kein gewaltsames Ende setzte.

Doch die Polizei setzte auf Verhandlungen. Denn der Mann hielt sich offenbar bewusst stets am Rand des Daches auf. Und die Beamten befürchteten, dass er bei einer Polizeiaktion in die Tiefe stürzen könne. Polizeisprecher Thomas Herbst betonte immer wieder, der Mann solle unversehrt vom Dach geholt werden, weil er sich in einem rechtsstaatlichen Prozess seiner Taten verantworten müsse. Und auch ein Straftäter habe das Recht auf körperliche Unversehrtheit - so schlimm die Taten auch seien, die Mario M. begangen habe.

Mario M. hatte am vergangenen Montag gestanden, am 11. Januar dieses Jahres die damals 13 Jahre alte Gymnasiastin Stefanie auf dem morgendlichen Schulweg ins Auto gezerrt und in seine Wohnung verschleppt zu haben. Fünf Wochen lang blieb sie in den Händen eines Täters, der das Kind Dutzende Male vergewaltigte und anders misshandelte. Etliche Taten hielt er auf Video fest. Dass er unberechenbar ist, wurde bereits zum Prozessauftakt offenkundig. Beim Verlesen der Anklageschrift sprang der Beschuldigte plötzlich auf und musste gefesselt aus dem Saal geführt werden.

Nun dürfte auch die politische Aufarbeitung des Falles beginnen. Justizminister Geert Mackenroth (CDU) hatte am Vortag eine Justizpanne eingeräumt, aber vorschnelle personellen Konsequenzen abgelehnt. Erste Stimmen wurden dennoch laut. So verlangte die Nebenklage unter anderem den Rücktritt des Dresdner JVA-Chefs. Auch die Forderung nach einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss des sächsischen Landtags wurde erhoben, da die Justizpanne nicht der einzige Fehler im Fall Stephanie ist.

Schon unmittelbar nach Ergreifung des Täters am 15. Februar hatten die Ermittler Fehler einräumen müssen. Lange war Mario M. nicht ins Visier der Polizei geraten, weil er noch mit seiner alten Anschrift registriert war und unter einem falschen Suchbegriff gejagt wurde. Auch das Vorgehen beim Befreien des Kindes wirkte stümperhaft. Als Beamte an der Tür des Geiselnehmers läuteten und keiner öffnete, forderten sie statt eines Spezialkommandos den Schlüsseldienst an.