Wahre Schätze: Insagesamt 29 000 alte Bücher lagern in dem Gymnasium. Manche, wie Boccaccios “Il Filostrato“, haben einen achtstelligen Wert.

Othmarschen. Dass dieses kleine graue Buch mit der schwarzen, altdeutschen Handschrift eine Rarität erster Güte auf dem Deckel hat, war den Bibliothekaren des Christianeums in Othmarschen schon lange klar. "Ewig alt" muss es sein, so die Vermutung. Seit mehr als zwei Jahrhunderten ruht das gute Stück im Magazin des traditionsreichen Gymnasiums im Westen Hamburgs. Doch erst jetzt konnte das altehrwürdige Fragment identifiziert werden. Wer "Alter Schinken" dazu sagt, ist ein Kulturbanause.

Denn der Pergamenteinband ist ein Blatt aus einem alten deutschsprachigen Manuskript mit einer Geschichte, die nur in wenigen handschriftlichen Zeugnissen überliefert ist. Darin schildert der Domdekan Johannes Marienwerder "Das Leben der zeligen vrouwen Dorothea" ("Das Leben der Heiligen Dorothea"). Der spätere Deutschordenspriester kam 1343 zur Welt und verstarb 1417. Zur Erinnerung: Die Erfindung des modernen Buchdrucks geht auf den Mainzer Goldschmied Johannes Gutenberg zurück, der in der Mitte des 15. Jahrhunderts ein komplettes Drucksystem mit beweglichen metallenen Lettern einführte. Vor dieser revolutionären Erfindung wurde mit der Hand geschrieben.

Das nunmehr via Internet von einem Professor in Manchester identifizierte, um das Jahr 1400 entstandene und mithin mehr als sechs Jahrhunderte alte Werk des norddeutschen Verfassers Marienwerder rundet einen historischen Schatz ab, der hierzulande seinesgleichen sucht. Zwei Bände der Schulbibliothek sind gar so wertvoll, dass sie in einem Banksafe gelagert werden. Vergleichbare Bücher wurden bei Auktionen in London und New York für zweistellige Millionenbeträge versteigert.

"Die Bibliothek des Christianeums ist von unfassbarem Wert", weiß Andreas Grutzeck, CDU-Politiker und stellvertretender Vorsitzender der Bezirksversammlung Altona. "Viele Bücher sind mit Geld gar nicht zu bezahlen." Auf Initiative seiner Fraktion wurden jetzt 18 000 Euro bewilligt - um einen Anfang zu machen. Zwar können damit nur ein paar Bände restauriert werden, doch hoffen Grutzeck und seine Mitstreiter auf eine Initialzündung.

"Einer der wertvollsten Buchbestände Deutschlands muss geschützt und für die Nachwelt erhalten bleiben", ergänzt Dr. Kaja Steffens, gleichfalls Mitglied der CDU-Fraktion und ehemalige Schülerin des 274 Jahre alten Gymnasiums. Auch Fraktionskollegin Susanne Schütt, zudem stellvertretende Elternratsvorsitzende des Christianeums, streitet für zusätzliche Mittel für die Lehrerbibliothek an der Otto-Ernst-Straße zu Othmarschen.

Zwar ist den Lehrern, Eltern und Schülern des Gymnasiums die historische Bedeutung ihrer Büchersammlung sehr wohl bewusst, doch ist die wahrhaftige Dimension des literarischen Schatzes außerhalb des Christianeums kaum jemandem bekannt. Spätestens zum 275. Gründungstag der Schule 2013 soll sich das ändern.

Am 3. Februar 1738 wurde die vormalige Friedrichschule durch Erlass des Königs Christian VI. von Dänemark zu einem Gymnasium Academicum aufgewertet. Die Lehranstalt rückte damit in den Rang einer fürstlichen Landesschule im deutschen Staatenverbund auf. Am 19. September 1738 trugen sich die ersten acht Gymnasiasten in Altona in die Matrikel ein. Über zwei Umwege, letztlich wegen des Elbtunnelbaus, zog das Christianeum 1971 in das heute bekannte Gebäude ein.

Alarmgesichert lagern dort heute in Magazin, Lesesaal und anderen Räumen rund 29 000 Bücher auf 1081 Regalmetern. Beim Lokaltermin des Hamburger Abendblatts entpuppt sich die Bibliothek als Schatzkammer. Es riecht nach Geschichte, im wahrsten Sinn des Wortes. Viel zu intensiv: Nach einem Schimmelbefall wurden 2001 knapp 1000 Bände abgesaugt und notdürftig gereinigt.

Weitere 350 Bücher wertvollsten Bestandes des 16. und 17. Jahrhunderts wurden wegen der Kosten von mindestens 8000 Euro nicht gereinigt. Diese noch unbehandelten Bände mit Pilzrasen sind für die Nutzung gesperrt und dürfen nicht bewegt werden. Zwar wurde das Klima in den Sälen durch Entfeuchtungsgeräte und eine neue Doppelverglasung stabilisiert, doch drängt sich dem neutralen Besucher eine Frage auf: Warum unternimmt die Stadt Hamburg nicht viel mehr, um einen historischen Schatz dieser Dimension sorgfältiger zu ehren und zu schützen?

Felicitas Noeske, Bibliotheksleiterin mit Kompetenz und Herzblut, arbeitet mit Leidenschaft am Erhalt der historischen Kulturgüter. Zu den Idealisten und ehrenamtlichen Helfern an ihrer Seite zählt Klaus Ropelius, ein feinfühliger Mann mit Inbrunst - und weißen Handschuhen. "Diese Bände sollen möglichst weitere 500 Jahre halten", sagen die beiden unisono. "Dann muss aber eine Menge passieren", denkt sich der Besucher.

Die Bibliotheksbestände als sensationell einzustufen, ist nicht übertrieben. Schon auf den ersten Blick erweisen sich die Schätze in den Regalen des Lesesaals, besonders jedoch im Magazin als einzigartige Dokumente norddeutscher Geschichte - und darüber hinaus. Nach wie vor profitiert das Christianeum, an dem einstmals nicht nur Dichterfürst Friedrich Gottlieb Klopstock und der Philanthrop Johann Bernhard Basedow ein- und ausgingen, vom goldenen Zeitalter der Stadt Altona zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Geistliche, Adelige und feinsinnige Kaufleute aus Hamburg und Schleswig-Holstein vererbten ihre Büchersammlung an das altsprachliche Gymnasium. Lange war es Usus, dass Abiturienten ein besonders gutes Buch spendeten. Das Ergebnis kann sich sehen lassen.

Plötzlich wird aus der sonst erfrischend lauten Stimme der Bibliothekarin Felicitas Noeske ein Flüstern. Gesetzten Schrittes nähert sie sich einem Stehpult, auf dem ein Band liegt, der mit Geld gar nicht zu bezahlen ist. Es handelt sich um das Werk "Il Filostrato", dem Codex Christiani, des italienischen Schriftstellers und Dichters Giovanni Boccaccio, der 1313 bei Florenz zur Welt kam. Liebhaber zahlen für solche Schätze zweistellige Millionenbeträge. Was ebenfalls für die "Comedia" des Dichters und Philosophen Dante Aligheri gilt, eines der berühmtesten Bücher der Weltgeschichte.

Und nun liegt dieser Buchschatz da, einfach so. Man wagt gar nicht, ihn anzufassen, soll es gewiss auch nicht. Prachtvoll erhalten sind die beiden Bände mit den bunten Zeichnungen und den illuminierten, das heißt farbigen Handschriften, die sonst im Banktresor ruhen und heute nur für ein paar Stunden in die Bibliothek zurückkamen. Es stellt sich ein Gänsehautgefühl ein.

Warum lagen zwei derart seltene Prachtexemplare im Tresor einer Bank? Warum unternimmt die Stadt Hamburg nicht etwas, damit sich jeder ein Bild von derart großartigen, geschichtsträchtigen Werken machen kann? Die Schule allein, das ist klar, ist mit einer solchen Aufgabe überfordert.

Ohnehin ist es ein kleines Wunder, dass eine leidenschaftliche Bibliothekarin plus eine Handvoll ehrenamtlicher Mitstreiter Schätze dieser Kategorie so liebevoll pflegen. Gerade wieder wurden zwei Inkunabeln lokalisiert, das sind Wiegendrucke aus dem 15. Jahrhundert. Möglich machten es Datenbanken im Internet. Gut möglich, dass bald noch weitere Schätze auftauchen.

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