Vattenfall hat die Anlage in Moorburg komplett ans Netz gebracht. Die einen halten sie für einen Umweltkiller, andere für unverzichtbar. Besuch in einem gewaltigen und teuren Kompromiss.

Hamburg. Die Geräuschkulisse in der Maschinenhalle klingt wie ein riesiger Wasserfall, ein Chor aus Rauschen, Brummen und Summen. Zwei Antriebsstränge von Turbinen und Generatoren stehen in dem Gebäude. Sie sind, gemeinsam mit den beiden Kesseln, der Motor des Kraftwerks Moorburg. Über die Turbinen von Block B läuft bereits Dampf. Seit einigen Monaten schon erzeugt dieser eine der beiden Kraftwerksblöcke im Probebetrieb Strom. „Jetzt geht auch Block A in den Probebetrieb ans Netz“, sagt Gudrun Bode von Vattenfall, die Leiterin des Besucherzentrums am Kraftwerk. Seit Donnerstag ist Moorburg zum ersten Mal – wenn auch noch im Testbetrieb – komplett unter Strom. Zum ersten Mal nach mehr als zehn Jahren Planungs- und Bauzeit. Block B soll den Regelbetrieb bis spätestens Ende März aufnehmen, Block A soll bis Ende Juni folgen.

In Moorburg am südlichen Rand des Hamburger Hafens steht eines der modernsten Kraftwerke der Welt: vom Kohlenachschub über die Stromerzeugung bis zur komplizierten Kühlung der Anlage. Wären alle laufenden Kohlekraftwerke auf diesem Stand der Technik, würde der globale Ausstoß an Treibhausgasen auf einen Schlag rapide sinken. Doch in Deutschland herrscht mittlerweile eine andere Sicht. Die Energiewende ist weit fortgeschritten. Wind-, Sonnen- und Biomassekraftwerke liefern hier zu Lande inzwischen mehr als ein Viertel des Stroms, mit steigender Tendenz. Kohlekraftwerke wie jenes in Moorburg gelten vielen nun als Relikte aus grauer Vorzeit.

Klimaschützer lehnen Anlage weiter ab

„Moorburg ist in punkto Klimaschutz und Luftschadstoffe eine Katastrophe. Aber auch die wirtschaftliche Perspektive für das Kraftwerk sehe ich sehr skeptisch“, sagt Manfred Braasch, in Hamburg Landesgeschäftsführer des Umweltschutzverbandes BUND. Für die Anrainer des Kraftwerks im Süden Hamburgs, für Bürgerinitiativen wie auch für Klima- und Umweltschützer ist die Lage klar: Sie lehnen Moorburg nicht nur wegen seiner Emissionen von jährlich bis zu neun Millionen des Treibhausgases Kohlendioxid ab. Auch die Luftschadstoffe, die das Kraftwerk beim Betrieb in seine unmittelbare Umgebung entlässt, halten sie für nicht vertretbar, etwa Stickoxide, Schwefeldioxid, Quecksilber und Arsen. „Moorburg darf im Jahr mehr als 6000 Tonnen Stickoxide ausstoßen“, sagt Braasch. „Das ist mehr als der gesamte Pkw-Verkehr in Hamburg.“

Planung und Bau des Kraftwerks glichen jahrelang einem chaotischen Machtkampf zwischen Unternehmen, öffentlicher Hand, Bürgerinitiativen und Umweltverbänden. Der Fall Moorburg ist in vieler Hinsicht vergleichbar mit dem der Elbphilharmonie. Für das Unternehmen Vattenfall allerdings ist das Kraftwerk deutlich teurer als es das Konzerthaus für Hamburg je sein wird. Für die Stadt wiederum hat das Kraftwerk weit reichende Folgen. In einem der Gebäude steht ein grün gestrichenes Rohrsystem. Von dort aus kann Fernwärme aus dem Kühlkreiskauf des Kraftwerks entnommen werden. „Wenn keine Fernwärme ausgekoppelt werden soll, müssen die Anschlüsse gegen Korrosion konserviert werden“, sagt Gudrun Bode von Vattenfall. „Das ist bislang noch nicht geschehen.“ Lange Zeit war geplant, mit einer Leitung durch die Elbe den Hamburger Westen mit Fernwärme aus Moorburg zu versorgen und damit das alte Kohlekraftwerk in Wedel zu ersetzen. Doch Bürgerinitiativen und eine Klage des BUND verhinderten den Bau der Pipeline.

Moorburg gilt als einziges Großkraftwerk im Norden

Das Kraftwerk Moorburg ist ein riesiger Kompromiss, der kaum jemanden glücklich macht. Die Kosten für Vattenfall waren von einst geplanten 1,7 Milliarden Euro auf drei Milliarden Euro gestiegen. Eine Milliarde Euro hat Vattenfall schon vor dem kommerziellen Start des Kraftwerks abgeschrieben. Wie viel Geld der Energiekonzern mit der Anlage verdient, wird auch davon abhängen, wie viel Strom aus norddeutschen Wind- und Sonnenkraftwerken künftig in Norddeutschland verbraucht wird – denn Ökostrom genießt bei der Einspeisung in die Netze Vorrang. „Vattenfall geht unverändert davon aus, dass das Kraftwerk auch ohne Auskopplung von Fernwärme wirtschaftlich betrieben werden kann“, sagt Pieter Wasmuth, Generalbevollmächtigter von Vattenfall für Hamburg und Norddeutschland. „Das Kraftwerk Moorburg als – nach Abschaltung von Brokdorf 2021 – einziges Großkraftwerk in Norddeutschland, ist langfristig für die sichere Grundlastversorgung in Hamburg und der Metropolregion erforderlich. Es trägt signifikant zur Versorgungssicherheit bei – auch für industrielle Großkunden.“

Hinter vorgehaltener Hand freut man sich in Wirtschaft und Politik über den Start des Kraftwerks. Moorburg bringt vor allem Industrie- und Hafenbetrieben zusätzliche Sicherheit vor dem Hintergrund der Energiewende, für die es technologisch kein Vorbild gibt. Einer der wenigen, der das offen einräumt, ist Dietrich Graf, Chef des städtischen Netzbetreibers Stromnetz Hamburg: „In Deutschland gab es bislang noch keinen flächendeckenden Blackout. Würde es zu solch einem Notfall kommen, könnte Moorburg mithelfen, das Hamburger Netz wieder aufzubauen“, sagt Graf. „In einem solchen Ausnahmefall könnte das Kraftwerk die Stadt zu 100 Prozent mit Energie versorgen. Die Kraftwerke Wedel und Tiefstack, die bisher für einen derartigen Notfall zur Verfügung stehen, können Hamburg im Winter gemeinsam nur zu etwa einem Drittel versorgen, im Sommer zu drei Vierteln.“ Bis zu einem Drittel des in Moorburg erzeugten Stroms, schätzt Graf, könnte künftig in Hamburg verbraucht werden.

Jahrelange Phase juristischer Auseinandersetzungen

Die Stadt spielte beim Bau des Kraftwerks Moorburg eine dubiose Rolle. Als Vattenfall seine ersten Pläne für eine Anlage mit zunächst nur einem Kraftwerksblock vorstellte, regierte die CDU mit Bürgermeister Ole von Beust im Rathaus allein. Die damalige Staatsrätin Herlind Gundelach (CDU) aus der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt forderte Vattenfall auf, im Hafen ein größeres Kraftwerk zu bauen: „Hier stellt sich uns die Frage, warum Vattenfall Europe nicht von Anfang an in eine Doppelblockanlage mit entsprechender Wärmeauskopplung aus jedem Block investieren möchte“, schrieb Gundelach am 17. Mai 2005 offiziell dem damaligen Vattenfall-Deutschlandchef Klaus Rauscher. „Dies würde zum einen dem Anliegen einer langfristig sicheren und umweltfreundlichen Wärmeversorgung der Stadt Hamburg entgegen kommen. Zum anderen wäre es eine optimale Ausnutzung des knappen und kostbaren Baulandes im Hamburger Hafengebiet unter Beachtung der geplanten Hafenerweiterung.“

Vattenfall plante und baute ein Kraftwerk mit zwei Blöcken und Fernwärmeauskopplung. Unter verschiedenen Regierungskoalitionen aber folgte dann eine jahrelange Phase juristischer Auseinandersetzungen, Verfahren und Prozessdrohungen – zwischen dem Unternehmen und der Stadt, zwischen Vattenfall und Umweltverbänden wie dem BUND. In Hamburg kippte die Stimmung gegen das Kraftwerk Moorburg auch bei vielen, die nicht ohnehin von Beginn an dagegen waren.

Olaf Scholz befriedete den langjährigen Streit

Im Ergebnis steht nun an der Elbe ein Kraftwerk, das einen Wirkungsgrad zwischen 46,5 Prozent und rund 45 Prozent aufweist – je nachdem, ob die Anlage mit einer Fließkühlung aus Elbwasser gekühlt wird oder in Kreislaufkühlung mit dem werkseigenen Kühlturm. Der Wirkungsgrad bezeichnet, welcher Teil der eingesetzten Energie in Nutzenergie wie Strom oder Wärme umgewandelt wird. Würde das Kraftwerk Fernwärme auskoppeln, hätte Moorburg etwa 61 Prozent Wirkungsgrad. „Die Option für die Auskopplung von Fernwärme besteht unverändert, da das Kraftwerk technisch dafür ausgelegt ist und die nötigen Anschlüsse vorhanden sind“, sagt Pieter Wasmuth. „Solange keine Entscheidung über die langfristige Wärmeversorgung insbesondere des Hamburger Westens getroffen worden ist, stellt Moorburg damit eine verfügbare Alternative dar.“

Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) befriedete den langjährigen Streit nach seiner Wahl 2011. Moorburg geht an den Start, aber einstweilen ohne Auskopplung von Fernwärme. Aus Sicht des Senats profitiert die städtische Wirtschaft von dem Kraftwerk durch mehr Sicherheit im Stromnetz. Aus seinem Wahlkampf aber hielt Scholz das Thema konsequent heraus. Denn Hamburgs Klimabilanz in der speziellen Statistik für die Energieerzeugung verschlechtert sich durch Moorburg von derzeit elf Millionen Tonnen Kohlendioxid auf bis zu 20 Millionen Tonnen im Jahr.

Bürgerinitiativen sind gut gerüstet

Und ein neuer Konflikt wird durch Moorburg unmittelbar angeheizt: Bis auf Weiteres bleibt offen, woher der Hamburger Westen künftig mit Fernwärme versorgt werden soll. Vattenfall plant derzeit, am Standort des alten Wedeler Kohlekraftwerks ein modernes Gas-und-Dampf-Kraftwerk zu bauen. Bürgerinitiativen vor Ort wollen den Neubau verhindern, zugleich aber den Betrieb des alten Kohlekraftwerks beenden. Aus ihrer Sicht sollen künftig kleinere, dezentrale Heizkraftwerke die nötige Fernwärme flexibler und umweltschonender erzeugen.

Die Bürgerinitiativen, die sich im „Hamburger Wärmedialog“ zusammengeschlossen haben, sind für die Debatten um den Kraftwerksstandort Wedel mit Argumenten gut gerüstet. Spätestens 2019 soll die Stadt – so lautet der Volksentscheid von 2013 – das Fernwärmenetz von Vattenfall vollständig zurückkaufen. Derzeit hält die Stadt an dem Netz 25,1 Prozent der Anteile. Fernwärme aus einem Kohlekraftwerk zu beziehen, verbiete aber der Volksentscheid, der von der Stadt eine „klimafreundliche“ Versorgung fordere, argumentieren die Kraftwerksgegner.

Kommt bald eine Neuauflage von Moorburg?

Auch beim Neubau eines Gas-und-Dampf-Kraftwerks in Wedel drohen Vattenfall lange juristische Konflikte – womöglich eine Neuauflage von Moorburg. „Der laufende Gutachtenprozess hat bereits gezeigt, dass auch ohne das Kohlekraftwerk Wedel durch das neue Heizwerk Haferweg eine Versorgung im Westen gegeben ist“, sagt Mirco Beisheim von der Initiative Kulturenergiebunker (Kebap) in Altona. „Damit ist der Weg frei für eine zukunftsoffene, möglichst dezentrale Wärmeversorgung aus mehreren Erzeugungsarten, die im Zeitraum bis 2030 auf erneuerbare Energien umstellt.“

Im Leitstand des Moorburger Kraftwerks absolvieren die Bedienmannschaften ihr Programm für den Regelbetrieb der Anlage. Allein 40 externe Ingenieure sind für den Startprozess befristet im Kraftwerk tätig. Dampf dringt aus den beiden riesigen Kaminrohren am Hafenrand – ein Zeichen dafür, dass nun beide Kraftwerksblöcke erstmals unter Strom stehen. Es sollte, so war es einst geplant und erhofft, ein Zeichen des Fortschritts sein. Doch nun ist es vor allem ein Fanal für den Kampf um den deutschen Energiemarkt.