In rasendem Tempo übernehmen die Gegner des abgesetzten Präsidenten Janukowitsch in der Ukraine die Schalthebel der Macht. Das gesamte politische System steht auf dem Prüfstand. Timoschenko spielt Schlüsselrolle.

Kiew. Stunde Null in Kiew: Nach dem Sturz von Präsident Viktor Janukowitsch hat die Opposition um die befreite Julia Timoschenko die Macht in der Ukraine übernommen. Im Eilverfahren besetzten die bisherigen Regierungsgegner die wichtigsten Posten. Das Parlament bestimmte am Sonntag seinen neuen Chef Alexander Turtschinow zugleich zum Übergangspräsidenten. In einer Ansprache an die Nation versprach er einen Westkurs. Die Abgeordneten beschnitten die Vollmachten des Staatschefs und setzten vorgezogene Präsidentenwahlen für den 25. Mai an. Dann will auch die Ex-Regierungschefin Timoschenko kandidieren.

Janukowitsch lehnte einen Rücktritt ab. Der prorussische Politiker, der nach Angaben des Grenzschutzes das Land verlassen wollte, sprach von einem „Staatsumsturz“ und „gesetzeswidrigen“ Parlamentsbeschlüssen. Sein Aufenthaltsort war unbekannt. Tausende Schaulustige inspizierten seine Residenz bei Kiew.

„Die Diktatur ist gestürzt“, verkündete die 53-jährige Timoschenko nach ihrer Freilassung. Sie reiste sofort zum zentralen Ort der Revolution, dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan) in Kiew. Im Rollstuhl forderte die kranke Politikerin vor mehr als 100.000 Menschen in einer emotionalen Rede, den „Kampf für die Freiheit“ der Ukraine bis zum Ende zu führen.

Das Parlament hatte zuvor die Entlassung von Janukowitschs Erzfeindin nach rund zweieinhalb Jahren umstrittener Haft angeordnet. Sie war im Oktober 2011 wegen Amtsmissbrauchs trotz internationaler Proteste zu sieben Jahren Straflager verurteilt worden. In dem nach Ansicht internationaler Beobachter politisch motivierten Verfahren wurde ihr ein Abkommen mit Russland über Gaslieferungen zum Nachteil der Ukraine zur Last gelegt.

Bundeskanzlerin Angela Merkel gratulierte Timoschenko in einem Telefonat zu ihrer Freilassung. Die CDU-Chefin halte Timoschenkos Rückkehr in die Politik für einen der wichtigsten Faktoren zur Stabilisierung der Lage in der Ex-Sowjetrepublik, teilte Timoschenkos Vaterlandspartei (Batkiwschtschina) mit. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton mahnte maßvolles Handeln der neuen Machthaber an. Sie will am Montag nach Kiew reisen.

Übergangspräsident Turtschinow, ein Vertrauter Timoschenkos, sagte in seiner Rede an das Volk: „Wir müssen in den Kreis der europäischen Länder zurückkehren.“ Zugleich sei die Ukraine zu einem guten Verhältnis mit Russland bereit – vorausgesetzt, dass Moskau „die europäische Wahl der Ukraine anerkennt und berücksichtigt“.

Barrikadenkämpfer kontrollierten das Regierungsviertel in Kiew. Auch die Sicherheitskräfte stellten sich auf die Seite der Sieger. Das Parlament soll bis Dienstag einen neuen Regierungschef wählen und sich auf ein „Kabinett des nationalen Vertrauens“ einigen.

Der kommissarische Innenminister Arsen Awakow teilte mit, 64 bei Protesten festgenommene Regierungsgegner seien auf freien Fuß gesetzt worden. Bei blutigen Straßenkämpfen zwischen Sicherheitskräften und Regierungsgegnern in Kiew waren seit Dienstag mindestens 82 Menschen auch durch Scharfschützen getötet worden.

Der bisherige Regierungschef Nikolai Asarow war Ende Januar auf Druck der Opposition zurückgetreten. Seine Minister waren seither nur noch kommissarisch im Amt. Sie wurden am Sonntag offiziell vom Parlament gefeuert. Die bisherige Regierungspartei machte Janukowitsch und seine engsten Vertrauten in einer Mitteilung persönlich für die Lage im Land verantwortlich.

Auch Russland distanzierte sich von seinem bisherigen Partner. Als erfahrene Politikerin könnte Timoschenko die Situation beruhigen helfen, sagte der einflussreiche Abgeordnete Leonid Sluzki in Moskau. Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen forderte die Ukrainer dazu auf, nun friedlich die Zukunft ihres Landes zu bestimmen.

Erst am Freitag hatten sich Janukowitsch und die Oppositionsführer um Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko auch unter Vermittlung von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier auf einen Kompromiss geeinigt. Janukowitsch sagte unter anderem Neuwahlen spätestens im Dezember zu. Vor allem dieser Punkt sorgte für Empörung bei vielen Regierungsgegnern, die den 63-Jährigen persönlich für die tödlichen Schüsse auf Demonstranten verantwortlich machen. Noch in der Nacht zum Samstag besetzten sie das Regierungsviertel.

Übergangspräsident Turtschinow sagte, die wirtschaftliche Lage der Ukraine sei „katastrophal“. Der Internationale Währungsfonds IWF zeigte sich bereit, das fast bankrotte Land zu unterstützen. Nötig seien aber legitimierte Gesprächspartner, sagte IWF-Chefin Christine Lagarde in Sydney beim Treffen der G20-Finanzminister.

Sowohl Ashton als auch Steinmeier stellten finanzielle Unterstützung in Aussicht. Steinmeier sagte, in einem Telefonat zwischen Kanzlerin Merkel und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin am Sonntag sei es bereits darum gegangen, „nach Wegen und Möglichkeiten zu suchen, die Ukraine wirtschaftlich zu stabilisieren“. Laut Bundesregierung telefonierte Merkel auch mit Frankreichs Präsident François Hollande.

Auf frisches Geld aus Russland muss die Ukraine hingegen weiter warten. Der russische Finanzminister Anton Siluanow bekräftigte, dass Moskau zunächst die Regierungsbildung abwarten wolle, bis es von Putin zugesagte Milliardenhilfen weiter auszahle.

Janukowitsch hatte Ende November auf Druck Russlands ein historisches Abkommen mit der EU über engere Zusammenarbeit auf Eis gelegt – der Auslöser für die Proteste, die schließlich zu seinem Sturz führten.