Eine moderne Flüchtlingspolitik in der EU ist möglich. Man muss sie nur wollen

Einen Slogan der Unterstützer der 300 afrikanischen Flüchtlinge liest man in Hamburg oft auf Transparenten und Plakaten: Lampedusa ist überall. Dieser Satz ist eine Polemik, er schüttet Emotionen in eine Debatte, die Sachlichkeit benötigt.

Dennoch trägt der Slogan auch Wahres in sich: Der Streit um die „Lampedusa-Gruppe“ auf St. Pauli ist nicht bloß ein lokales Problem zwischen Flüchtlingen, Helfern und Senat. Was in Hamburg passiert, ist Folge einer verfehlten EU-Flüchtlingspolitik, deren Prinzip vor allem Abschottung vor Armut ist. Wahr ist, die Politik muss die Situation für Flüchtlinge, die über Italien nach Hamburg kamen, hier lösen. Aber noch mehr in Berlin und Brüssel. In den EU-Grenzstaaten Italien und Griechenland. Überall.

Was Europa dafür benötigt, ist eine neue Haltung. Und ein Konzept. Die Haltung muss die Humanität in den Vordergrund stellen – und nicht die Abwehr. Flucht und Wanderung sind Teil der globalen Gesellschaft. Die Welt ist nicht in Ordnung, wenn alle dort bleiben, wo sie sind. Vor allem gilt nach den Unglücken im Mittelmeer: Tote verhindern, so gut es geht.

Wer aus Afrika flieht, muss Asyl beantragen können. Die EU braucht Außenposten in Afrika, Osteuropa und Nahost, die rechtsstaatliche Verfahren und – nach einer Anerkennung des Asylbegehrens – eine sichere Überfahrt ermöglichen. Niemand sollte sich mehr in nussschalengroßen Booten in Lebensgefahr begeben müssen.

Die Debatte in Hamburg offenbart eine weitere gravierende Schwäche im Asylrecht. Der Senat pocht darauf, dass Italien laut Gesetz als Erstaufnahmeland verantwortlich für die Flüchtlinge ist. Diese EU-Regelung ist Irrsinn. Sie belastet die ohnehin schwächelnden Randstaaten Europas. Und die wollen diese Last nicht mehr allein tragen, zu Recht. Aufnahmequoten müssen sich in Europa künftig nach Bevölkerungsanzahl und Wirtschaftsstärke richten. Für Menschen, die aus der Not fliehen, braucht Europa Mindeststandards: bei der Unterbringung und der Versorgung. Länder wie Italien und Griechenland brechen hier mit europäischen Grundwerten. Deutsche Gerichte lehnen regelmäßig eine Abschiebung zurück nach Italien aus humanitären Gründen ab.

Doch es geht nicht nur um Standards im Humanitären. Europa steht vor der Aufgabe, das Asylrecht zu vereinheitlichen. Wer sich als ein Wirtschaftsraum und als Wertegemeinschaft versteht, kann sich weder aus ökonomischen noch moralischen Gründen verschiedene Gesetze leisten. Was Europa braucht, ist ein einheitliches System für die Anerkennung von Asyl und Einbürgerung – ein System, auf das sich Flüchtlinge und Migranten verlassen können. Bildungsabschluss, Berufserfahrung und Sprachkenntnisse können Kriterien für verlässliche Verfahren sein. Es wäre im Geist liberaler Flüchtlingspolitik, Asylbewerbern den Zugang zu Sprachkursen zu ermöglichen, die Residenzpflicht abzuschaffen und so Mobilität zuzulassen. Wer sich legal als Flüchtling in Deutschland aufhält, ist de facto vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Dies macht weder humanitär noch wirtschaftlich Sinn.

Europa drängt in der Flüchtlingspolitik vieles beiseite: Menschen, neue Ideen – und manchmal auch eine wichtige Frage wie diese: Was ist, wenn Immigranten wieder zurück in ihre Heimat wollen? In der Angstrhetorik der westlichen Wohlfühlstaaten ist dies nicht vorgesehen. Hier kann die EU mehr tun: die Rückreise sichern, vor Ort mit Bildungsangeboten helfen, einen Neuanfang in der Heimat erleichtern. EU-Politiker, Bundesminister und Innensenatoren mögen Ideen für einen liberaleren Umgang mit Flüchtlingen belächeln. Dies sei naiv, wenig pragmatisch, für Europa nicht bezahlbar, werden sie vielleicht sagen. Aber wer weiß das schon? Wir haben es ja nie probiert.

Der Autor ist Redakteur im Politikressort des Abendblatts