Ein Klassiker im Kinder-TV feiert Jubiläum: Die deutsche Ausgabe der “Sesamstraße“ wird 40 Jahre alt - und ist frech wie eh und je.

Berlin. Deutsche Kinder könnten sich mit den "in der Sendung auftretenden Negern" nicht identifizieren, erklärte der Fernsehdirektor des Bayerischen Rundfunks im Januar 1973. Der Mann, ein gewisser Helmut Oeller, war noch relativ frisch im Amt, aber schon auf dem Kriegspfad. (Später, als er Dieter Hildebrandts "Scheibenwischer" oder Wolfgang Petersens "Konsequenz" aus dem Programm fegte, nannte man ihn den "Meister der Absetzung".) Und diesem Helmut Oeller stand ein Projektgruppenleiter Erziehungswissenschaft zur Seite, der sich über einen "Mangel an Moral" in der "Sesamstraße" empörte und verkündete, deren Macher missbrauchten ihre pädagogischen Mittel "in der infamsten Weise".

So war das vor 40 Jahren. Als die antiautoritäre Erziehung auf ihrem Höhepunkt war und der NDR gegen alle Widerstände in der ARD die "Sesamstraße" aus Amerika ankaufte. Während böse Zungen behaupteten, der NDR habe das nur getan, um Studio Hamburg besser auszulasten, widmete der "Spiegel" der kontrovers diskutierten Vorschulserie im März 1973 eine Titelgeschichte. "Kinder", so das Magazin, "sind nämlich auch mal dran."

Der Erfolg war atemberaubend. Die erste, in einer Auflage von 230.000 Exemplaren gedruckte Nummer des vom NDR und der Zeitschrift "Eltern" gemeinsam herausgegebenen "Sesamstraße"-Magazins war im Handumdrehen vergriffen. Dasselbe galt für die 36.000 Poster, die der WDR drucken ließ. Während die Kinder südlich des Mains mit der Ersatzsendung "Das feuerrote Spielmobil" abgespeist wurden, schafften Kindergärten und Kindertagesstätten nördlich des Mains in großem Stil Fernsehgeräte an, damit die von ihnen betreuten Kleinen morgens zwischen halb zehn und zehn die "Sesamstraße" sehen konnten. Die Folgen waren entsprechend: Kinder beriefen sich auf das Krümelmonster, wenn sie Kekse verlangten - "Denn Keks schmeckt lecker, lecker, lecker!" -, und auf Ernie, wenn sie angeblich zu viel Krach machten. In Ulzburg, berichtete der "Spiegel" amüsiert, kippe ein Dreijähriger auf der Suche nach Oscar - "Ich mag Müll. Alles, was schmutzig ist, stinkig und dreckig. Ja, ich mag Müll!" - jede erreichbare Tonne um.

40 Jahre "Sesamstraße" im deutschen Fernsehen. Umgerechnet 450.000 Dollar haben die Hamburger damals für eine zweijährige Nutzungsfrist an den 275 Folgen der amerikanischen Erfolgsserie bezahlt, die seit November 1969 im US-Fernsehen gelaufen waren. Das ZDF, das sich ebenfalls um die Rechte bemüht hatte - Hintergrund war eine dringende Empfehlung der Kultusminister, über eine "möglichst frühzeitige und individuelle Vorbereitung auf die Grundschule durch freiwillige Vorschulerziehung" nachzudenken -, zog den Kürzeren. (Die Mainzer starteten dann im September/Oktober 1973 ersatzweise ihre Eigenproduktionen "Kli-Kla-Klawitter" und die "Rappelkiste".)

Die "Sesamstraße" bekam im Januar 1978 eine eigene deutsche Kulisse. Hauptdarsteller waren von nun an zwei Menschen und zwei Puppen. Zum Beispiel Samson und Tiffy, Henning Venske und Lilo Pulver. Venske und Pulver wurden im Lauf der Zeit von Ilse Biberti, Gernot Endemann, Manfred Krug, Uwe Friedrichsen, Hildegard Krekel, Ute Willing oder Horst Janson abgelöst. Janson gerät heute noch in Rage, wenn er sich an die auf semantische Korrektheit versessene Redaktion erinnert: ",Schön' konnte etwas sein, 'böse' auch - aber 'ganz schön böse', das ging für die nicht!"

Die "Sesamstraße" sei "40 Jahre gelebte Toleranz", sagt Ole Kampovski, der Leiter der Abteilung Kinder und Jugend beim NDR. An den Anfang kann sich Kampovski noch genau erinnern: "Als die erste Folge der 'Sesamstraße' am 8.1.1973 begann, spielte ich im Garten. Meine Mutter rief mich rein, ich sollte unbedingt diese neue Sendung aus Amerika sehen. Ich zog also meine blauen Gummistiefel im Flur aus, setzte mich auf den knallroten Lackknautschsack vor unseren Schwarz-Weiß-Fernseher und begann mit großen Augen 'Sesamstraße' zu sehen."

Bei NDR-Intendant Lutz Marmor schwingt hingegen fast schon Bedauern mit, wenn er einräumen muss, für die "Sesamstraße" damals schon zu alt gewesen zu sein: "Ich war bereits volljährig. Insiderwitze wie: 'Willst du 'ne Acht kaufen?' gingen an mir später genauso vorbei wie Anspielungen auf originelle Haartrachten: 'Die sieht ja aus wie Tiffy!' oder melodramatische Charaktere, die an einen gewissen Herrn von Bödefeld erinnern." Eins, so Marmor, sei ihm angesichts solcher Bemerkungen allerdings klar geworden: "Die 'Sesamstraße' prägt fürs Leben."

Und sie ist gesellschaftlich relevant. So sehr, dass im vergangenen Jahr 7000 Menschen eine Petition von Schwulenrechtlern unterzeichneten, in der es hieß, Ernie und Bert sollten endlich heiraten. Den Produzenten ging diese Forderung zu weit. Ernie und Bert, erklärten sie wenig überzeugend, seien nur "beste Freunde und Puppen ohne sexuelle Ausrichtung". Andererseits gaben sie nach zwei Anläufen den Versuch auf, das Thema Scheidung in der "Sesamstraße" zu thematisieren: Bei den Testvorführungen hatten die Kinder herzzerreißend geweint ...

In Deutschland wird jetzt erst einmal gefeiert. Mit der schönen Ausstellung, die bis zum 7. April im Berliner Filmmuseum läuft, und bei zwei Fernseh-Specials.

"Sesamstraße - Sonderausgabe" Di 8.1., KiKA, 8 Uhr; "Die lange Sesamstraßen-Nacht", 12. Januar, NDR, 23.40 Uhr