Mit “Wie wir leben wollen“ veröffentlicht die Band nicht nur die zehnte Platte, die in Hamburg gegründete Band feiert auch 20. Jubiläum.

Hamburg. Einst Identifikationsgruppe für tolerant erzogene Bürgerkinder, die nicht wussten, wogegen es zu protestieren gilt. Heute eine der wichtigsten poetischen wie kritischen Instanzen des Landes. Mit "Wie wir leben wollen" veröffentlicht die in Hamburg gegründete Band Tocotronic am Freitag nicht nur ihr zehntes Album, sondern feiert zugleich 20. Jubiläum.

Im Laufe ihrer Geschichte haben sich Texter, Sänger und Gitarrist Dirk von Lowtzow, Bassist Jan Müller und Schlagzeuger Arne Zank nicht nur Rick McPhail als Gitarristen in ihren Kosmos geholt. Sie haben sich auch inhaltlich gehäutet und entwickelt. Von der sloganhaften hin zur nuancierten Verweigerung. Vom Secondhand-Look zu unaufgeregter Eleganz. Von schroffen Drei-Akkord-Stücken hin zu einem emphatischen, vielschichtigen, hoch spannenden Pop. In dem durchaus auf Überforderung angelegten, 17 Stücke umfassenden neuen Werk kehren in abgewandelter Form Leitmotive wieder - wie Körper, Tod und Befreiung.

Das Abendblatt traf Dirk von Lowtzow, der mittlerweile in Berlin lebt, und Jan Müller, der nach wie vor in Hamburg wohnt, zum Gespräch. Im Hotel Michelberger in Berlin saßen die beiden Musiker auf einem kleinen Sofa und redeten gut gelaunt, aber auch nachdenklich über Nostalgie und Zweifel, aber auch über Comicfiguren und Plüschtiere.

Hamburger Abendblatt: Wie schaffen Sie es als Band, sich immer wieder zu erneuern und Brüche herzustellen - vor allem in Phasen, wo es doch richtig gut läuft?

Dirk von Lowtzow: Wir haben eine angeborene Selbstunzufriedenheit. Bei der Vorbereitung zur Platte bei Rick im Studio in Hamburg konnten wir fast körperlich merken: Sobald wir ein Stück in Richtung einer Rezeptur arrangierten, hat sich das total komisch angefühlt. So war das bei uns schon immer. Gerade nach dem 97er-Album "Es ist egal aber", also nach den ersten vier Platten, als wir den größten Erfolg und das größtmögliche Publikum erreicht hatten, verordneten wir uns bewusst einen Bruch. Sonst hätte es die Band vielleicht gar nicht weiter gegeben.

Gab es damals die Überlegung: Lieber aufhören, als die Projektionsfläche für all die Trainingsjacken- und Cordhosen-Träger des Landes zu sein?

Von Lowtzow: Das klingt nun doch ein bisschen zu dramatisch (lacht) . Das waren bei uns feine graduelle Mechanismen. Es bestand eher die Gefahr, Karikaturen seiner selbst zu werden. Obwohl wir es ja auch von Anfang darauf angelegt hatten. Nicht umsonst haben wir uns damals als Comicfiguren gezeichnet. Und unser Aufzug mit den Trainingsjacken und Cordhosen war ja fast wie so eine Comicfigurenuniform. Es wurde dann aber zu so einem komischen Kult. Ohnehin kam in den 90ern ja der Begriff der Kultigkeit auf, vor allem in Bezug auf so 70er-Jahre-Trash. Die populärsten Äußerungen waren dann so Phänomene wie Schlagermove und Guildo Horn. Das wollten wir nicht.

Jan Müller: Heute wollen wir uns eher klanglich abgrenzen von vielem, was stattfindet im Bereich der deutschsprachigen Rockmusik. Das ist ja häufig lediglich verkleideter Schlager.

Wie wichtig war Hamburg vor 20 Jahren als Ort für das musikalische Schaffen?

Von Lowtzow: Diese regionale Bedeutungsebene des Begriffs "Hamburger Schule" fanden wir von Anfang an blöd.

Müller: Andererseits hat es vieles einfacher gemacht. Man ist da in Strukturen eingetaucht. Das wäre in Berlin schwieriger gewesen aufgrund der Größe. In Hamburg gab es nur drei, vier Orte, wo alles stattgefunden hat.

Von Lowtzow: Und es war streng!

Müller: Das hat uns gut gefallen, weil es spannend war, das zu durchbrechen. Diese Wandergitarrenakkorde bei uns, das waren ja alles No-gos. Aber obwohl wir mit unserem Auftreten eine gewisse Dreistigkeit an den Tag gelegt haben, wurden wir doch sehr wohlwollend empfangen.

Sie, Herr von Lowtzow, haben mal gesagt, dass Sie kein nostalgischer Typ seien. Wie bewerten Sie dann jetzt das große Tocotronic-Jubiläum?

Von Lowtzow: Ich mag's nicht so gerne. Aber das ist eine Charaktersache. Jan sieht das bestimmt ganz anders.

Müller: Ich finde es toll, dass es diese Dokumente aus der eigenen Vergangenheit gibt. Das ist so, als würde man ein Fotoalbum aufschlagen, nur viel erweiterter. Man kann auf sich selber schauen. Es ist auch beglückend zu sehen, dass das, was wir seit geraumer Zeit fabrizieren, von Interesse zu sein scheint. Obwohl viele Stücke wie "Digital ist besser" oder "Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk" anfangs als interne Codes erdacht wurden.

In der aktuellen Info zur Platte ist vom Schreiben als Höllenfahrt die Rede, in Bezug auf die Literaturwissenschaftlerin Hélène Cixious. Klingt anstrengend.

Von Lowtzow: Wenn man gern Gruselgeschichten und Horrorfilme mag, so wie ich, dann kann eine Höllenfahrt ja auch schön und interessant sein.

Müller: Die Geisterbahn auf dem Dom! (beide lachen, dann etwas ernster ...)

Von Lowtzow: Worauf Cixious aber bestimmt anspielt, ist Dante, das Inferno, die Fahrt in die Hölle, die Beschreibung der einzelnen Ebenen. Das ist ähnlich wie bei einem Körper, bei dem man ja auch in verschiedene Schichten eindringen kann. Und natürlich ist das Schreiben mitunter ein peinigender Prozess, wenn man über etwas grübelt. Jeder, der Kunst macht, wird das kennen, diesen Selbstzweifel, der an einem nagt. Aber wenn alles so einfach wäre, wäre es ja auch langweilig. Das Zaudern ist ganz wichtig.

Eine weitere wichtige Schicht ist das Artwork. Woher stammt der markante Schriftzug zu "Wie wir leben wollen"?

Müller: Wir wollten den Albumtitel gern typografisch visualisieren. Aber uns war auch klar, dass der Albumtitel insbesondere in Verbindung mit einem typografischen Design als eine Art Ratgeber missverstanden werden könnte. Ich habe mich dann erinnert, dass ich noch ein Konvolut von Briefen einer alten Dame, die ich im Zivildienst betreute, in der Schublade hatte. Diese Frau war sehr originell, sehr einsam und zornig. 1994 ist sie gestorben. Aus ihren an mich gerichteten Briefen habe ich den Titel montiert.

Neben dem Konzept drum herum steckt in den Songs ja der konkrete Wunsch nach "Verbesserung der Erde". In "Neue Formen" etwa wird die Utopie besungen, Europas Grenzen aufzuweichen.

Von Lowtzow: Ja, einige Stücke haben vom Blick und von der Fragestellung her einen fast kindlich-naiven Duktus.

Dazu passt ja auch das neue Merchandise, ein Plüschvogel, oder?

Müller: Daphne!

Von Lowtzow: Die ist sehr frech.

Müller: Ich würde sagen bipolar.

Von Lowtzow: Man sollte sich vorher gut überlegen, ob man eine davon erwirbt, wenn wir damit auf Tour sind.

Müller: Tamagotchi ist nichts dagegen.

Sie haben offenbar ein Faible für künstliche Existenzen und Platzhalter - etwa wenn Sie singen: "Im Keller wartet schon die Version, die mich dann ersetzt"?

Von Lowtzow: Das ist die Verlängerung der These, die ich 2007 in dem Song "Imitationen" aufgestellt habe: "Du musst nicht Du selber sein". Wenn man das weiterdenkt, gibt es vielleicht tatsächlich verschiedene Versionen von einem. Oder das Selbst als Stofftier.

Eine Opposition gegen das Authentizitätsstreben im Rock? Immerhin richten Sie sich in "Exil" mit Lyrics wie "Ich bin krank/ich bin ein weißer heterosexueller Mann/du kannst mich abschieben" gegen gängige patriarchale Strukturen.

Von Lowtzow: Das war eine Idee, weil die allermeisten Narrationen in der Literatur, aber auch in der Rockmusik von der Perspektive des weißen, heterosexuellen Mannes ausgegeben werden und Leute, die das nicht sind, immer in einer Art Exil leben müssen. In dem Song wollte ich das umdrehen.

Tocotronic live Thalia Theater: 28.1. (ausverkauft), Große Freiheit: 15.3. (ausverkauft) & 16.3. (28,- Vvk.)