Wolfgang Rihm, der hoch gelobte Komponist, der in keine Schublade passt, über die Musik, den Schaffensprozess und den Nutzen der Kultur.

Hamburg. Wenn man sich Schubert, der gern zum Dauermelancholiker abgestempelt wird, als "Rainer Werner Fassbinder seiner Zeit" vorstellen muss, von verzückten Gleichgesinnten umflattert also, aus welcher Klischee-Schublade gehört Wolfgang Rihm dann wegen Unberechenbarkeit aussortiert? Am besten aus jeder. Jede wäre zu klein.

Rihm, im Frühjahr 60 geworden, gilt als erfolgreichster deutscher Komponist. Schüler von Stockhausen, Lehrer von Widmann. Aufträge durchgetaktet für in etwa die nächsten fünf Jahre. Opuszahlen hat er sich längst abgewöhnt, "das hab ich als Jüngling gemacht, von 1 bis 13", mittlerweile dürfte er in der 500er-Region angekommen sein, aber "ich bin niemand, der sich archiviert. Und es ist für mich kein Zeichen von Produktivität, dass es viel ist."

Ein Markenartikel ist Rihm, soweit man das als quicklebendiger Komponist heutzutage noch sein kann, sein Stil changiert in raffinierten Klangfarben, er liebt es, sich die Messlatte immer wieder höher zu legen, damit es nicht zu einfach wird. Gute Chancen hat, wer bei ihm ein Chorstück bestellen möchte, danach wäre ihm schon seit Längerem. Ansonsten heißt es: hinten anstellen und hoffen, dass Rihm bei der Arbeit nur auf "Möglichkeiten" stößt und nicht auf "Unmöglichkeiten". "Es kommt schon mal zu Kollisionen. Kunst ist aber eben nicht so, dass sie aufgrund von Abmachungen entsteht." Vor längerer Zeit gab es wohl auch eine Anfrage in Sachen Elbphilharmonie, aber dann ...

Als ihm die NDR-Reihe "das neue werk" an diesem Wochenende mit zwei Konzerten nachträglich gratulierte, wartete Rihm bei der Fragerunde im Rolf-Liebermann-Studio mit seinem überraschenden Schubert-Fassbinder-Vergleich auf, und mit einer jovialen Plauderpose, die so gar nicht nach einem weltfernen Staubfänger aus dem Avantgarde-Elfenbeinturm aussah.

Wie der für ihn aussieht, zeigt Rihm einen Tag später mit einigen Handyfotos. Der Schreibtisch, auf eine kleine beschreibbare Fläche reduziert, ist umzingelt von Bücherregalen, "eigentlich das totale Chaos. Es wird nicht mit Besuch gerechnet, ein vollkommen gefülltes Ambiente aus Büchern, Papieren und keinem Platz", und im Nachbarzimmer steht der Flügel, "um Dinge auszuprobieren".

Heute soll Rihm erklären, wie Kunst in den Kopf kommt. Sie dort wieder herauszubekommen, das ist ein Kunst-Stück für sich, auch bei jemandem, der so erfolgsabonniert ist. Schaffenskrisen, jetzt noch? "Damit kann ich dienen, es wird Ihnen nur nicht so vorkommen, weil sie Teil des Schaffens sind. Schaffenskrisen sind nicht so schön vorgärtchenartig abgezäunt. Die sind permanent anwesend. Da sehe ich auch gar nichts Fremdes drin."

Womit wir wieder beim flott gezimmerten Klischee wären; bei der Vorstellung, dass er womöglich ein Schub-Schreiber ist, jemand, der nicht eher ruht, bis auch wirklich alles, was zu Papier soll und will, auch dort gelandet ist, und wenn das heißen sollte, sich nachts mit dem wundgearbeiteten Kopf auf der Schreibtischplatte wiederzufinden. "Lachen Sie nicht, aber das gibt es", entgegnet Rihm. "Der Kopf auf der Klavierkante, das kenn ich, weil dann eine Erschöpfung eingetreten ist, die das Ablegen dieses Körperteils nahelegt."

Man kann mit Rihm gut über die kleinen Nettigkeiten seiner Bekanntheit albern: "Autogrammwünsche? Darin sehe ich keinen Ausweis von Berühmtheit, eher von Berüchtigtkeit." Einfach leugnen, Rihm zu sein? "Das gelingt, wenn man ich ist, nur schwer." Auf das großkalibrige Stichwort "Schicksal" andererseits pariert er aus dem Stand druckreif: "Man hofft, ein solches zu haben, aber man will's auch eigentlich gar nicht wissen. Und ist dann ja doch dabei, wenn's kommt."

Danach ein Stimmungswechsel, ins Misterioso. Henzes Wort von der "Todesangst" als Schaffensmotor. "Ein sehr offenes und großes Wort", findet Rihm. "Wenn mich die Arbeit wirklich umschließt, kann so ein Gefühl entstehen - jetzt kann mir, für eine gewisse Zeit, nichts passieren. Das mag er gemeint haben. Da herausgeschleudert zu werden. Wie bei einer Häutung von Tieren, dann liegt man wie ein prospektives Opfer da, für den großen Vogel Tod."

Bleiben wir beim Grundsätzlichen. In der Kaufmannsstadt Hamburg kann es nie schaden, den Nutzen von Kultur zu erläutern. Bei der Kombination dieser beiden Begriffe kommt Rihm kurz ungläubig aus dem Takt. Also gut, wieder etwas zum Mitschreiben und Merken: "Wenn Kunst in einer Gesellschaft entsteht, wird sie mit ihrem Überleben konfrontiert. Wir unterhalten uns ja nicht über Gerichtsakten oder Getreidepreise, wenn wir über geschichtliche Zeiten sprechen. Sondern über deren Kunst. Kunst nützt der Gesellschaft, indem sie deren Erinnerung sichert."

Das wäre geklärt, zurück also zur Musik. "Nichts an Musik ist normal. Musik ist überhaupt nie Normalfall. Sie ist immer etwas Herausgehobenes, etwas Ereignisartiges, von den menschlichen Leidenschaften Kündendes. Selbst die blödschte", eine schöne Stelle für Rihm, um in seinem Karlsruher Dialekt zu heimeln, "Werbemusik kommt davon Gott sei Dank nicht los."

Ein Komponist, der nur etwas vom Komponieren versteht, das ist der Genussmensch Rihm nicht, denn: ja, er ist auch am Herd zu etwas zu gebrauchen. "Ich bin ein idealer Resteverwerter, was da ist, wird zu einer schmackhaften Speise angerichtet. Kompositorisch verhalt ich mich also wie Mozart."

"Inspiration - wie kommt die Kunst in den Kopf?" Mo, 5.11., 19.00, Gespräch mit Ulrich Greiner/Goethe-Lieder von Wolfgang Rihm. Simon Bode (Tenor), Jan-Philip Schulze (Klavier). Freie Akademie (Klosterwall 23), 10,-/8,-