Er führte ein Leben für das Theater: Am Wochenende starb der Journalist und Kritiker Klaus Witzeling nach kurzer, schwerer Krankheit.

Hamburg. Es gibt diese kleine Theateranekdote, die sehr schön veranschaulicht, wie Wahrnehmung und Wirklichkeit bisweilen auseinanderklaffen, und nicht nur am Theater: „Und was machen Sie tagsüber?“, ist die freundliche Frage des Unwissenden an den Schauspieler, den er allabendlich auf der Bühne im Scheinwerferlicht bewundert. Für Kritiker gilt sie ebenso – in beide Richtungen. In der Redaktion fällt jemand vielleicht als emsiger Schreiber auf, man kennt die Haufen von Notizen, hinter denen er dichtend und tippend und manchmal fluchend verschwindet. Und abends? Sitzt der Mann im Parkett und hat sein Tagwerk noch lange nicht beendet. Ob es jemanden in dieser Stadt gibt, der in den vergangenen 30 Jahren mehr Theatervorstellungen gesehen hat als Klaus Witzeling? Schwer vorstellbar.

Unser Kollege Klaus Witzeling war Journalist, er war Kritiker, es gehörte zu seinem Job, sich jeden Abend aufs Neue vor den Vorhang zu setzen, den Stift zu zücken und sich überraschen zu lassen. Das Besondere an ihm war vielleicht eben dies: Er ließ sich tatsächlich überraschen. Er war tatsächlich neugierig. Er gehörte nie, auch nicht nach so vielen Jahren in diesem Beruf, zu jenen Kritikern, die abgeklärt auf den nächsten Verriss zusteuern, denn, ja, auch solche gibt es natürlich. Klaus war anders. Er hat das Theater geliebt, und er hat es gelebt. Weil er musste – weil es ihn selbst dazu drängte. Ein fast asketisch wirkender Mann, immer in Schwarz, noch in jedem Halbdunkel des Parketts an seiner charakteristischen Glatze und der markanten Brille zu erkennen. Jeden Abend war er so unterwegs, in jedem Hamburger Theater, in den großen Häusern sowieso, aber auch in den ganz kleinen, abgelegenen, und zwar mit ebensolcher Offenheit und Wertschätzung. Was nicht hieß, dass er naiv dem romantischen Theaterzauber erlag, auch gnadenlos konnten seine Urteile sein. Bösartig allerdings war er nie. An Respekt, an Hochachtung vor dem Können hinter der Vorstellung und dem Mut, sie so und nicht anders auf die Bühne zu bringen, fehlte es ihm nicht.

Vielleicht, weil ihm bewusst war, welche Mühe dahinter steckte. Weil er auch den Blick von der Bühne in den Zuschauerraum sehr genau kannte. Klaus Witzeling, dieser schmale, bescheidene, tänzelnde Mann, war selbst Schauspieler. In den 60er-Jahren hat er seine Ausbildung am renommierten Max-Reinhardt-Seminar absolviert und auch eine Weile am Theater – unter anderem in Basel und Solothurn in der Schweiz – gearbeitet, bevor er schließlich die Seiten wechselte und zum Kulturjournalisten wurde. Es wurde sein Beruf, die ehemaligen Kollegen warmherzig und mit differenziertem Urteilsvermögen zu begleiten, anfangs für die „Hamburger Morgenpost“, seit Anfang der 90er-Jahre für das Hamburger Abendblatt und Fachmagazine wie „tanz“.

In diversen Jurys beschäftigt

Als viel beschäftigter Juror – zum Beispiel in den Jurys für den Boy-Gobert- oder den Rolf-Mares-Preis – lag ihm die Förderung der Szene und insbesondere des künstlerischen Nachwuchses am Herzen. Er hatte später bekannte Regisseure oftmals bereits mit ihren ersten Arbeiten auf kleinen Nebenbühnen oder Festivals gesehen, er kannte und begleitete ihren Werdegang.

Viel gereist ist Klaus nicht, das hat er manchmal bedauert. Wenn er allerdings unterwegs war, dann ebenfalls im Namen der Kunst: Mit John Neumeier und seiner Compagnie in New York, mit Corny Littmann in Havanna. Wenn er dort einen Rum getrunken hat, konnte er sich freuen wie ein Teenager, der ausnahmsweise über die Stränge geschlagen hat; fast „gschamig“ hätte er selbstironisch gesagt, der österreichische Humor war ihm, geboren in Graz, stets nah.

Sogar noch am Ende fiel er durch unverbesserlichen Optimismus auf. Klaus war kurz, aber sehr schwer krank, seine letzten Nachrichten unterschrieb er dennoch mit einem nachdrücklichen „Auf ein baldiges Wiedersehen!“ Da war er längst so schwach, dass er wissen musste, dass es dieses Wiedersehen nicht geben würde. Aber so war Klaus, einer seiner Ärzte sagte ihm noch in der vergangenen Woche: „Herr Witzeling, Sie sind der Lichtblick unserer Station.“ Ein spontan im Krankenzimmer vorgetragenes Gedicht ließ ihn für einen Moment aufblühen.

Es ist ein tröstlicher Gedanke, dass ihm im Theaterhimmel nun womöglich so große Bühnenheroen wie Gustaf Gründgens, Fritz Kortner oder Elisabeth Flickenschildt begegnen. Und vielleicht überredet Otto Sander Klaus dort zu einem gemeinsamen Rum.

Klaus Witzeling ist in der Nacht zum Sonntag gestorben. Er wird uns unendlich fehlen. Wie alt er geworden ist, war eines seiner bestgehüteten Geheimnisse. So soll es bleiben.