Das Hamburger Theaterfestival zeigt zum Abschluss “Die Möwe“ von Jürgen Gosch. Ein beglückender Abend mit großartigem Ensemble.

Hamburg. Es hat schon seinen Grund, warum eine Schauspielerin eine berühmte Schauspielerin ist. Am Beispiel von Corinna Harfouch, die mit dem Berliner Gastspiel der "Möwe" (eine Inszenierung des 2009 gestorbenen Regisseurs Jürgen Gosch) gestern und vorgestern das Hamburger Theaterfestival zu einem fulminanten und gefeierten Abschluss führte, konnte man das sehr anschaulich beobachten. Sie spielt in Tschechows Stück die Arkadina, ebenfalls eine Schauspielerin. Und sie, die Harfouch, hat diese Extraportion Präsenz und Energie und Strahlkraft, die dazu führt, dass man sie - auch wenn sie gerade keinen Text hat - fortwährend angucken muss. Man kann das so auf keiner Schauspielschule erlernen, ein Regisseur kann (und sollte) es natürlich sehen und veredeln und freilegen, vor allem aber ist es: einfach da.

Wie unwichtig scheinen an so einem Abend die "neuen Formen", von denen der idealistische junge Dichter Kostja (zitternd vor Emotion: Jirka Zett) fantasiert, die seine Muse, die ebenso junge Möchtegern-Schauspielerin Nina (Kathleen Morgeneyer) einfach nicht versteht und die ihm einen Tobsuchtsanfall seiner Mutter Arkadina bescheren. Weil doch, das kapiert auch Kostja am Schluss, "alles Hirngespinste" sind, was in der Kunst nicht "von Herzen" kommt. Viel macht man sich über das Theater so seine Gedanken in Tschechows "Möwe". "Ohne Theater geht's nicht", heißt es da. Tatsächlich. In dieser Inszenierung, seiner letzten, hat Jürgen Gosch auch eine Art Vermächtnis hinterlassen.

Fast scheint es, als schaue er mit jeder Vorstellung verschmitzt von seiner Wolke und freue sich daran: Seine Schauspieler, eine erste Riege, kommt zum Stückbeginn demonstrativ auf die Bühne; das Saallicht bleibt an, wer nicht an der Reihe ist, schaut den anderen zu. Beim Trauern (stark: Meike Droste als Mascha), beim Lieben, beim Sterben. Es ist eine Probensituation, eigentlich, fast eine Laborsituation auf kühler grauer Spielfläche, eine Präsentation, wie die Menschen so sind, auch die Schauspieler und Schreiberlinge. Keine Kulissen, keine roten Samtvorhänge, "nur" das pure Spiel. Und darum umso lebenssatter, lebendiger, wärmer.

Alle kreisen in der Sommergesellschaft auf dem Land wie Trabanten um die Arkadina, und die Harfouch füllt den Mittelpunkt mühelos aus, ist Diva, lasziv, egoistisch, hysterisch, bewundernswert. Ihr Lover, der kauzige Schriftsteller Trigorin, ist bei Alexander Khuon kein cooler Hund, sondern ein irgendwie armseliges Würstchen, wenn auch ein berühmtes. Sehr komisch ist er in seiner Schrulligkeit, sehr schön zart die zum Scheitern verurteilte Beziehung zwischen ihm und Nina. Die Naive spielt Kathleen Morgeneyer konsequent, vielleicht ein wenig sehr elegisch, aber doch sehr anrührend.

Furchtbar melancholisch ist "Die Möwe", ja, aber es ist doch auch eine Komödie, Tschechow hat es so gewollt und eigens in den Untertitel geschrieben. Und Jürgen Gosch erinnert daran, mit seinen wunderbaren Schauspielern. Nina will wissen, wie man das Leben ertragen kann. Sich zu erschießen wie Kostja, das ist eine Antwort. Zynismus sowieso, immer. Das Spiel aber, das ist auch eine Antwort. Und der empfehlenswertere Weg. Wie gut er funktioniert, zeigt diese Inszenierung: Sie strahlt weit über den Tod des Regisseurs hinaus. Voller Leichtigkeit und schöner Verzweiflung, voller Sinnlichkeit und philosophischer Momente. Das Leben, welch ein Glück, dass es da ist. Und welch ein Glück, wenn man Schauspielern wie Corinna Harfouch und den anderen an so einem Abend dabei zusehen darf.