Besonders erfolgreich ist Popmusik heute, wenn sie alt ist. Das liegt auch daran, dass Nostalgie ein menschliches Grundbedürfnis ist.

Hamburg. Zuletzt mal den Blick schweifen lassen über die CD-Stapel und Musiksortimente der großen Musikdealer, Saturn zum Beispiel oder Mediamarkt? Ist etwas aufgefallen? Vielleicht dies: In den Charts tauchen aus den Untiefen der Vergangenheit die Künstler auf, die längst Oldtimer sind (Mick Jagger und seine superschwer verdauliche Band Superheavy ) oder gar nichts Neues produziert haben: Nirvana zum Beispiel, die Smiths oder U2. Alte Klassiker also, die gut gereift sind und Gassenhauer für die Ewigkeit geschrieben haben.

Letzteres ist ja eine fürchterlich platte Werber- oder auch Konsumentenphrase; derzeit bewahrheitet sie sich allerdings so deutlich wie wohl nie zuvor: Wir sind süchtig nach dem Gestern, sagen Musikkritiker und Beobachter der Pop-Zeitläufte. Wir leben in einer Ära des Retro, des "Blick zurück und liebe, was du dort findest". Der renommierte englische Kritiker Simon Reynolds behauptet gar, dass Pop seiner Aufgabe, das Jetzt abzubilden, nicht mehr nachkommt. Der Puls der Jetztzeit, so Reynolds, fühle sich seit Jahren immer schwächer an, spätestens seit der Jahrtausendwende sei die Pop-Gegenwart von der Vergangenheit überflutet worden - in Form von archivierter Erinnerung oder Retro-Rock, der historische Stile aufsaugt.

Reynolds in einschlägigen Kreisen neugierig und kontrovers aufgenommenes Buch trägt den Titel "Retromania. Pop Culture's Addiction to Its Own Past" (Verlag Faber and Faber). Wer von der Vergangenheitssucht der Popkultur spricht, der kann seinen Blick nicht von der Masse an Wiederveröffentlichungen, 20th-Anniversary-Deluxe-Versionen alter Platten, von den "Remastered"-Versionen legendärer Alben wenden. Wem das "neue" Nirvana-Doppelalbum (die neu abgemischte, jetzt 20 Jahre alte, ein Genre begründende CD "Nevermind") ein Dorn im Auge ist, der hat die Befürchtung, dass Pop als neue ästhetische Strategien erprobende Kunstform ausbuchstabiert, an ein Ende gekommen ist.

Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass die Rede vom "Nachspielen" alter Bands beinah so alt ist wie die Popmusik selbst. Musiker haben sich schon immer aufeinander bezogen; genauso, wie sich Schriftsteller vom Alten inspirieren lassen. Der Vorwurf, das Gestern zu plündern, lässt sich angesichts wieder aufgelegter Alben allerdings nicht von der Hand weisen. Unterschlagen in der aktuellen Diskussion wird allerdings, dass es für die im Fachsprech "Re-Issues" genannten neu-alten CDs einen handfesten Grund gibt: Formschöne Musikprodukte mit jeder Menge zusätzlichen Inhalts (Fotos, DVDs, Booklets) verkaufen sich. Das gilt für längst nicht alles, was der Markt produziert, im Gegenteil.

Trotzdem ist an der allfälligen Beschwerde, wie selten der Popmusik heute noch ein Statement zum Hier und Jetzt gelingt, etwas dran - ein alter Hut. Hip-Hop, Techno oder Beatmusik sind als kulturelle Wegmarken Meilensteine; sie zeigen die Entfernung an, die zwischen einzelnen Entwicklungsschritten liegen. Neue Meilensteine, in der antiken, monolithischen Form, werden heute nicht mehr gebaut.

Eine Sackgasse ist Popmusik jedoch nicht. Die postmodernen Zeiten sind in vielerlei Hinsicht welche, in der die Phänomene zersplittern und in viele einzelne Teile zerfallen. Die alle vereinende Bewegung gibt es so wenig, wie es die Platte gibt, auf die sich alle einigen können, oder den Stil, der alle mitreißt. Neues gedeiht heute in der mehr oder weniger großen Nische: In der vergangenen Saison war es der den Beat verschleppende Musiker James Blake, der für seine Erfindung des "Dubstep" gefeiert wurde.

Popmusik hat schon immer an zwei Grundbedürfnisse des Menschen gerührt: das Fortkommen, es ist nach vorne gerichtet. Noch ungleich stärker ist Musik, die vielen als emotionalste und nostalgischste Kunstform gilt, aber an die Vergangenheit gekoppelt: Sie ist der Soundtrack für unser Leben, und das besteht zu einem großen Teil aus Erinnerungen. Wenn neue Bands alte nachspielen, bedienen sie damit eine rückwärtsgewandte Lebenspraxis, die ein wichtiger Posten in unserem Gefühlshaushalt ist. Und wenn alte Platten wieder veröffentlicht werden, dann bezeugt das nicht nur deren Stellenwert in der Pop-Geschichte, sondern auch den in der persönlichen.

Pop hat seine Vergangenheit schon immer konserviert, und Pop darf auch Museum sein. In Hamburg haben die Beatles (oder wenigstens das, was sie einmal werden sollten) Geschichte geschrieben. Dieselben Musikfans, die heute die "Remastered"-Box der Pop-Pioniere kaufen, fahren auch an die Elbe, um auf den Spuren der Band zu wandeln. Pop ist romantisch, weil er eine Vergangenheit hat. Pop ist ein Gefühlsgenerator sui generis.

Was nicht heißt, dass es in 40 Jahren ein Scooter-Denkmal auf St. Pauli und einen Scooter-Wanderweg in Hamburg geben sollte. In der Musikgeschichte gibt es viele Höhen, aber noch viel mehr Tiefen. Deswegen ist es nur konsequent, wenn von Zeit zu Zeit die alten Meister wieder in den Charts notiert sind. Die Postmoderne ist das Zeitalter des Zitierens, des Pastiches. YouTube ist seit Jahren eine Erfolgsgeschichte. Wie viele mit dem Internet untrennbar verbundene Medien, die das Alltagsleben charakterisieren, hat das Clip-Portal die Pop-Rezeption für immer verändert: Musik und ihre Vergangenheit sind immer verfügbar. Auch das befördert unsere "Retromania".