Fünf Jahre prägte Wolfgang Peiner (CDU) als Finanzsenator Hamburg. Nun liest er dem letzten CDU-Bürgermeister die Leviten und ist in Sorge.

Hamburg. Manchmal erinnern Politiker an Scheinriesen. Michael Ende erfand in seinem Buch "Jim Knopf" die Figur Herr Turtur - je weiter sie sich entfernt, desto größer erscheint sie. Ähnlich ist es mit gewählten Volksvertretern. Je weiter ihr Rücktritt oder die Abwahl zurückliegen, umso gewichtiger wird ihr Wort, umso stärker wächst das Interesse der Deutschen an ihren Botschaften. Anders als zu den Zeiten seiner Kanzlerschaft etwa wird jeder Satz von Helmut Schmidt heute ehrfurchtsvoll gedeutet, Peer Steinbrücks viel diskutierte Bilanz und Bewerbung "Unterm Strich" stürmte die Bestsellerlisten.

Insofern darf man auch auf die Erinnerungen "Handeln für Hamburg" des ehemaligen Finanzsenators Wolfgang Peiner (CDU) gespannt sein. Von 2001 bis 2006 leitete der heute 67-Jährige die Behörde am Gänsemarkt und war mit Ole von Beust der Weichensteller des zurückliegenden Jahrzehnts. Die beiden ergänzten sich perfekt - hier der beliebte wie smarte Bürgermeister mit einem ausgeprägten Bauchgefühl für die Sorgen der Hamburger, dort der intellektuelle Kopf der CDU, der Manager Wolfgang Peiner. Fraglich ist, ob die Hamburger einen Wolfgang Peiner zum Bürgermeister gewählt hätten, genauso fraglich aber ist, ob sie Ole von Beust ohne Wolfgang Peiner 2004 wiedergewählt hätten. "Die Bürger wollen nicht unbedingt einen 'superschlauen' Politiker an der Spitze sehen, sondern eine Person, der sie vertrauen und die ihnen das Gefühl gibt, gerecht regiert zu werden", schreibt Peiner in seinen Erinnerungen, die in der kommenden Woche auf den Markt kommen.

In seinem Buch lässt er seine Zeit in Wirtschaft und Politik Revue passieren und liest seinen Nachfolgern die Leviten, wo er es für nötig hält. Er erzählt schnörkellos und kommt schnell zum Punkt - sein großes Thema ist das Leitbild Wachsende Stadt, das er 2001 entwickelt hat und das half, die "schlafende Schöne" (Helmut Schmidt) zu erwecken.

Zehn Jahre danach sieht Peiner die Stadt in Gefahr, von diesem Weg abzukommen. "Neuer Schwung ist vonnöten", fordert er im elften Satz des Buches - und hält auf den folgenden 220 Seiten ein Plädoyer für ein waches, ambitioniertes, engagiertes Hamburg. Es ist ein streitbares Buch, was kaum verwundert - denn Wolfgang Peiner mit seinen Ecken und Kanten avancierte in Hamburg schnell zum Lieblingsfeind der damaligen SPD-Opposition.

Früh findet der gebürtige Hamburger Peiner in die Politik, als Teil des berühmten wie berüchtigten Magdalenenkreises - aus dem fast alle aufstrebenden CDUler hervorgingen. Hier trafen sich früh unter anderem spätere Senatoren wie Birgit Jastram, Gunnar Uldall, Bundespolitiker wie Volker Rühe oder Dirk Fischer. "Aus einem Freundeskreis, der im Pastorat von Jürgen Echternachs Vater regelmäßig Monopoly spielte, ist seinerzeit dieser viel zitierte und zum Teil gefürchtete Kreis entstanden. Wir gingen zusammen ins Kino und auf Partys, spielten Gesellschaftsspiele - und beschäftigten uns mit Politik. Zunächst war dies ein Kreis von Freunden, dann ein Netzwerk und zum Schluss eine Seilschaft", erinnert sich Peiner. Sie trägt ihn auch in die Politik - obwohl er 2001 eigentlich nur Berater des Wahlkämpfers Ole von Beust ist. Nach dem überraschenden Wahlsieg, der allerdings allein auf dem Sensationserfolg der Schill-Partei gründete, trat Peiner ins Kabinett ein. Aus dem Wahlkampfthema "Wachsende Stadt" wurde ein Schwerpunkt der Politik.

"Hamburg hat mental einen phänomenalen Aufbruch erlebt, die ersten Jahre des neuen Jahrzehnts waren goldene Jahre für Hamburg", schreibt Peiner. Das klingt anmaßend, trifft aber die Realität - die Wachsende Stadt wurde eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Tatsächlich lohnt der Vergleich zur Situation zum Amtsantritt 2001: Silvester 2000 lebten 1,715 Millionen Menschen in Hamburg - zehn Jahre später waren es in einem schrumpfenden Deutschland mit 1,786 Millionen über vier Prozent mehr. Plötzlich bewegte sich etwas in Hamburg: Kräne über der Stadt waren ein eindrucksvolles Signal des Aufbruchs. Die Wahrnehmung der Hansestadt wandelte sich - durch die noch von Voscherau ersonnene HafenCity, das neue Leuchtturmprojekt Elbphilharmonie, aber auch eine überdurchschnittliche wirtschaftliche Entwicklung und mutige Reformen etwa im Bereich der Kinderbetreuung. Allen Widerständen und Problemen zum Trotz führte die Politik das Kita-Gutscheinsystem zum Erfolg. Hamburg war plötzlich in, Boomtown, in Deutschland ganz oben.

"Das Schwungrad, das durch das Leitbild in Bewegung gebracht worden war, erlahmte bereits ab 2007/2008, ohne dass sich präzise sagen ließe, warum. Vermutlich fehlte ein Treiber", heißt es in dem Buch. Man ahnt, wer der Treiber war. Zumal Peiner 2005 auf das Leitbild noch einmal draufsattelte und ein ambitioniertes Ziel formulierte: "Hamburg muss 2015 die Metropole des Nordens sein."

Peiner war der Stratege, der im Finanzressort die Fäden in der Hand hielt, und wegen seiner guten Kontakte zu Ole von Beust der mächtigste Senator. Umso schwerer wog sein freiwilliger Ausstieg 2006 - für Peiner war Politik immer ein Amt auf Zeit, er wollte sich Neuem widmen. Ohne ihn gerieten zunächst die großen Ziele aus dem Blick, und dann auch mehr und mehr die Koordinaten des Alltags. Die Union verschliss sich an der Macht.

Den Verzicht auf das Leitbild der Wachsenden Stadt hat Peiner getroffen - die Hansestadt auch. "Der Markenkern der CDU - und damit das in ganz Deutschland anerkannte Aushängeschild der Stadt - wurde der Koalition geopfert", konstatiert er bitter über die schwarz-grüne Koalition, die 2008 an die Macht kam.

Wie einen Krimi beschreibt er den Schlingerkurs der Hamburger Union in die Opposition - Ausgangspunkt war nach Peiners Einschätzung eine CDU, die sich selbst zu überschätzen begann, sämtliche Posten unter sich aufteilte und die Stadt aus dem Blick verlor. Deutlich wurde dies, als die Hamburger CDU sich am 1. März 2010 nach dem Rücktritt von Landeschef Michael Freytag neu aufstellen musste. Fraktionschef Frank Schira wurde zugleich CDU-Landeschef, Innensenator Christoph Ahlhaus designierter Bürgermeister.

Während sich Ole von Beust lange wenig um Partei und Fraktion gekümmert hatte und mehrere unabhängige Kandidaten auf Senatorenposten setzte, hievte Nachfolger Ahlhaus Parteifreunde in zentrale Ämter. Den Koalitionsbruch der GAL kommentiert Peiner fast verständnisvoll: "Meine Einschätzung ist, dass vor allem die grüne Stadtentwicklungssenatorin Anja Hajduk die treibende Kraft des Koalitionsbruches war. Auch sie sah, dass sich die CDU von der 'Ole-Partei' zur Schira/Ahlhaus-Partei wandelte. Mit dieser Partei wollte sie nicht in der Koalition untergehen. Die Arbeit der CDU - von Bürgermeister, Senatskanzlei, Senatoren und dem Fraktionsvorsitzenden - lieferten dann Argumente und Anlass, diesen Schritt nach innen gegenüber den eigenen Mandatsträgern und in der Öffentlichkeit zu begründen und dann zu vollziehen."

Hart geht Peiner mit seinem Parteifreund, Kurzzeitbürgermeister Christoph Ahlhaus, ins Gericht: "Es fehlte ihm ein Konzept zur Zukunft der Stadt ebenso wie die Vorstellung davon, wie er personell nach außen hin einen Neuanfang signalisieren könnte. Das Festhalten am Sparprogramm von Finanzsenator Frigge zeigte darüber hinaus ein mangelndes Verständnis für die Themen Kultur und Soziales. Innerhalb weniger Wochen wurde der Ruf Hamburgs als Kulturmetropole von Rang zerstört. Auch den Ratschlag, die Kita-Gebührenerhöhung zurückzunehmen, setzte er nicht um."

Peiner ist ehrlich, ehrlicher als so manchem Parteifreund in der Hamburg-CDU lieb sein dürfte. Im Buch spürt man mitunter den Haushaltsexperten, der seine Materie nicht nur kennt, sondern liebt, auch mehr als manchem Leser lieb ist. "Nach meinem Ausscheiden aus dem Senat habe ich die Wiederholung eines Kernfehlers der Politik erlebt, nämlich die Hoffnung auf einen ewigen Aufschwung", kritisiert er. Und liefert Zahlen. Der Überschuss aus dem Betriebshaushalt von 1,34 Mrd. Euro 2008 verwandelte sich unter seinem Nachfolger Michael Freytag in ein Minus von 543 Millionen nur zwei Jahre später. Noch deutlicher schenkt er seinem Nachnachfolger Carsten Frigge ein. "Ich konnte nur den Kopf schütteln über die vollmundigen Ankündigungen eines meiner Nachfolger, der vom größten Sparpaket aller Zeiten sprach. Er hatte sich offenbar mit der Vergangenheit nie beschäftigt."

Wie ein Wirtschaftsthriller liest sich das Kapitel "Im Spannungsfeld zwischen Staat und Wirtschaft". Hier erläutert Wolfgang Peiner die riskanten Investments, die Hamburg unter seiner Ägide gewagt hatte und die von wirtschaftsliberaler Seite harsch kritisiert wurden. Peiner und der damalige CDU-Senat verstanden Standortpolitik stets als offensives Milliardenspiel. Wenn Hamburger Konzerne als Übernahmekandidaten auf den Radarschirmen multinationaler Konzerne erschienen waren, gewährten ausgerechnet Christdemokraten dem Markt eine Auszeit. Der erste wie spektakulärste Schritt Richtung Stadtfonds war der damalige Einstieg mit immerhin 1,1 Milliarden Euro bei Beiersdorf. Als die Allianz ihr 40-Prozent-Paket an dem heutigen DAX-Konzern veräußern wollte, zeigte der US-Konzern Procter & Gamble großes Interesse. Peiner und der damalige Wirtschaftssenator Uldall vereitelten deren Einstieg und verkauften das eigene Beiersdorf-Paket später mit Gewinn an der Börse.

Das war der Beginn einer Politik, die deutschlandweit einzigartig wie umstritten blieb. "Es geht ausschließlich um Rahmenbedingungen", schreibt Peiner in seinem Buch. "Es handelt sich um Beteiligungen auf Zeit - um Zeit zu gewinnen für eine Neuordnung des Eigentümerkreises."

Die Performance des heimlichen "Hamburg-Fonds" kann sich sehen lassen: Nach dem Beiersdorf-Deal rettete die Politik die Norddeutsche Affinerie (heute Aurubis) vor der Übernahme, dann den Germanischen Lloyd und schließlich Hapag-Lloyd. Ob sich das letzte Geschäft, das Peiner als Spiritus Rector einfädelte, indes für den Hamburger Steuerzahler rechnen wird, steht noch dahin.

Auch das für Hamburg und Schleswig-Holstein desaströse Kapitel HSH Nordbank kommt im Buch nicht zu kurz - als Aufsichtsratsvorsitzender war Peiner von 2007 bis 2009 Chef des Kontrollgremiums. Diese Passagen lesen sich mitunter wie eine Verteidigungsschrift, ein gerüttelt Maß an Selbstkritik sucht man vergeblich.

Das Buch lebt davon, dass Peiner seine grundsätzlichen Überlegungen immer wieder mit Anekdoten kombiniert - so garniert er seine eher schwierigen Ausführungen über die Bedeutung deutscher Rechtsformen in der Europäischen Union mit der Erinnerung, dass der damalige EU-Kommissar Martin Bangemann vor dem Gespräch in einer Pause gleich drei Eisbeine und vier Weizenbiere konsumierte.

Zur Bundespolitik bietet Peiner Anekdoten und Fakten - und eine sehr nahe Beschreibung der Kanzlerin. Als Bundesschatzmeister der CDU hat er die Parteivorsitzende und spätere Kanzlerin unmittelbar erlebt. Und weil Peiner in der Partei nichts mehr werden will, kann er Tacheles reden. Er beschreibt einen lautstarken Streit im CDU-Präsidium, in dem der damalige Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz Angela Merkel mit den Worten attackierte: "Dir, Angela, geht es nur um deine Person." Ein Konflikt, der die Partei in Peiners Augen bis heute belastet. Er attestiert Angela Merkel eine traumatische Angst, die auf die Wahlnacht 2005 zurückgeht. Damals hatte die CDU in der sicheren Siegeserwartung ein desaströses Wahlergebnis eingefahren - für Merkel die Strafe für einen ehrlichen Wahlkampf.

Der Weichensteller der Hamburger Politik rät der Kanzlerin: "Sie muss die Ängstlichkeit wieder abwerfen, und sie muss auch bereit sein zu kämpfen, um eine klare Position zu beziehen. Das gilt auch für eine marktwirtschaftliche Grundüberzeugung."

Mit "Handeln für Hamburg" hat Peiner ein streitbares, ja streitlustiges Buch verfasst, das Anhänger wie Gegner lesen sollten. Und wenn sie dann über Hamburg und das Leitbild der Wachsenden Stadt diskutieren sollten, wäre ein Wunsch des 67-Jährigen erfüllt.