Regina Scheer erhält im Literaturhaus für ihren Wenderoman „Machandel“ den Mara-Cassens-Preis. Spannende Gegenwartsliteratur über die letzten Tage der DDR aus der Ich-Perspektive.

Der erste Impuls beim Aufschlagen von „Machandel“ ist: das Buch wieder zuzuklappen. Ein ungnädiger Reflex, ganz sicher, der daher rührt, dass nichts so vergänglich ist wie das Bohei um ein rundes Jubiläum. 2014 war ein Großgedenkjahr, in dem Deutsche an den Beginn des Ersten Weltkriegs dachten, vor allem aber auch an den Mauerfall 1989. Mit Lutz Seilers Roman „Kruso“ gewann ein Wenderoman den Deutschen Buchpreis, und im medialen Dauergetöse beamte man sich zurück in die Zeit des Aufbruchs und des Wandels.

Es ist der Sättigungsgrad, der irgendwann erreicht ist und der einem vor Regina Scheers Roman erst einmal zurückzucken lässt: In ihm geht es nämlich ganz viel um DDR und die deutsche Vergangenheit, um Familiengeheimnisse und Brüche in den Lebensläufen, um das große deutsche Drama in den kleinen Leben. Es ist ein schönes Buch, das auf einem literarisch nicht allzu aufwendigen, aber umso wirkungsvolleren Verfahren beruht. Aus der Sicht mehrerer Protagonisten erzählt Scheer, die 1950 in Berlin geboren wurde und in der DDR als Autorin und Journalistin arbeitete, von acht Jahrzehnten deutscher Geschichte – mit einem Schwerpunkt auf den späten Jahren der DDR, bis diese schließlich 1989 implodierte.

Und weil Scheer in ihrem Geschichtspanorama ein Personal auftreten lässt, bei dem das Interesse des Lesers verfängt, lohnt die Lektüre natürlich doch – des Mara-Cassens-Preises ist Scheer jedenfalls würdig. Heute bekommt sie die mit 15.000 Euro dotierte Auszeichnung im Literaturhaus überreicht; der Cassens-Preis gehört zu den wichtigsten Debütantenpreisen im deutschen Sprachraum und steht mit einem Charakteristikum allein unter allen anderen. Er wird von einer Leserjury vergeben.

Diese entschied sich für eine 2014-Preisträgerin, die einige Sachbücher schrieb und erst spät zum fiktionalen Erzählen kam. In „Machandel“ lässt sie Menschen zu Wort kommen, die in der großen Erzählung von Aufstieg und Fall eines Landes geradezu zu Idealtypen geronnen sind. Die Älteren, die, die den Sozialismus auf deutschem Boden aufgebaut haben, verteidigen die DDR bis zuletzt, aber bei ihren Kindern verschwindet der Glaube an die Segnungen der Planwirtschaft. In den Verwicklungen des Schicksals spiegelt sich die Gedrängtheit eines Jahrhunderts.

Fluchtpunkt ist das mecklenburgische Dorf Machandel

Fluchtpunkt aller Träume und Irrwege ist das mecklenburgische Dorf Machandel, wo die Sprachwissenschaftlerin Clara mit ihrem Mann Michael einige Jahre vor der Wende eine Kate kauft. Machandel ist im Familienbuch der Sippe ein wichtiger Ort. Kurz vor Kriegsende versteckte sich hier ihr Vater, der Kommunist Hans Langner; vorher quälten ihn die Nazis nach jahrelanger Haft in Sachsenhausen noch auf einem Todesmarsch. Später gehört Langner, der ehemalige Rotfront-Kämpfer und Thälmann-Vertraute, zur SED-Nomenklatura und inoffiziellen Vereinigung der DDR-Bonzen. Zweifel an der Richtigkeit der DDR-Mission hat er nie, aber die Kinder schlagen aus der Art.

Nicht nur Clara, die sich rege an der Bürgerbewegung von 1989 beteiligt, sondern besonders der Sohn Jan ist es, der Hans Langner herausfordert und ihn mit seinen Lebenslügen konfrontiert: Die Neigung der Sozialisten, die eigenen Reihen immer wieder von angeblichen Verrätern zu säubern, hat auch Langner in die Liga der Schuldhaften katapultiert, weil er den Freund und Retter von einst verleugnen musste, um selbst gesellschaftlich zu überleben.

Mit ihren Figuren, die allesamt in der Ich-Perspektive zu Wort kommen, reist Scheer in verschiedene deutsche Vergangenheiten. Dabei sind es keineswegs nur Deutsche, die in „Machandel“ auftreten. Der Roman ist als Zeugnis der Fluchtbewegungen des 20. Jahrhunderts auch ein aktuelles Stück Gegenwartsliteratur. So tritt bei Scheer eine Figur namens Emma Peters auf, die den Feuersturm auf Hamburg 1943 überlebt und danach nach Mecklenburg übersiedelt. Sie wird dort Ersatzmutter einer siebenköpfigen Kinderschar und bleibt nach dem Krieg in der Provinz. Dort schwemmt der Strom aus dem Osten weitere Flüchtlinge an, und aus der Masse der NS-Zwangsarbeiter sind es der eine und die andere, die als Stückgut der Geschichte auch nach dem Ende des Krieges in der neuen und nur zunächst unfreiwilligen Heimat bleiben.

Mobilität ist ein Merkmal geschichtlicher Umstürze: Unmittelbar vor der Wende fliehen Tausende über Ungarn und die Tschechoslowakei, kurz danach verlassen Arbeitsuchende wie Claras Mann Michael das Land. Es ist ein gewaltiges geschichtlich-gesellschaftliches Tableau, auf dem sich Scheer in ihrem Debüt bewegt. Über ihren Stoff verfügt sie souverän, indem sie die Lebensberichte so aneinanderfügt, dass Lücken bleiben. Das Spannungsverhältnis zwischen der Flüchtigkeit der Lebensentwürfe und dem speziellen Ort, der jedem Menschen Halt gibt, äußert sich in Scheers Roman durch den Kontrast zwischen der Beweglichkeit seiner Helden und Machandel.

Dort schreibt Clara an ihrer Dissertation, die sich mit dem Grimm-Märchen vom Wacholderbaum beschäftigt. Wenn alles sich ändert, bleiben trotzdem die alten Geschichten, die immer wieder erzählt werden. So wie die Geschichten aus dem untergegangenen Land – der Roman „Machandel“ ist in dieser Lesart ein weiteres Stück Arbeit am DDR-Mythos.

Verleihung des Mara-Cassens-Preises 8. Januar 19.30 Uhr, Literaturhaus. Es gibt Restkarten.

Regina Scheer: „Machandel“. Knaus. 478 S., 23 Euro