Die „Deutschstunde“ nach dem Roman von Siegfried Lenz überzeugt mit einem virtuosen Ensemble. Es gibt kein Entkommen und die Gesetze des Ausweglosen sind für alle gleich. Doch etwas fehlt.

Hamburg. Hier läuft alles schief. Und es gibt kein Entkommen. Wer oben bleiben und aufrecht stehen will, muss sich anstrengen. Auf der Bühne, die Bettina Pommer für Johan Simons’ Inszenierung der „Deutschstunde“ am Thalia Theater entworfen hat, versuchen die Schauspieler sich gerade zu halten, Haltung zu bewahren, nicht abzustürzen. Das ist nicht immer leicht und gelingt nicht jedem. Denn die Bühne, die wie ein aufgeklapptes Buch wirkt und aus drei riesigen Schrägen besteht, lässt manch einen der sieben Schauspieler schon mal in die Mitte, wie in einen Abgrund rutschen. Oder sie halten sich aneinander fest, bilden eine Zwangsgemeinschaft, die miteinander auskommen und überleben muss. Obwohl sie sich gegenseitig ausspionieren, verleumden und bekämpfen, als Familie, als Dorfbewohner. Die Gesetze des Ausweglosen sind für alle gleich.

Optisch findet sich damit eine genaue Entsprechung für Siegfried Lenz’ Roman „Deutschstunde“, der neben Günter Grass’ „Blechtrommel“ wohl der berühmteste deutschsprachige Roman der Nachkriegszeit ist. Da geht es um Pflicht und Widerstand, um Befehlsausführer und individuelle moralische Verantwortung. Kein Thema, das man eben mal schnell fürs Theater in Action verwandeln kann. Und doch zeigt sich an diesen schwankenden und fallenden Gestalten auf der Bühne, an dem Kraftaufwand, den sie brauchen, um sich gerade zu machen, genau das, was nur das Theater kann, nämlich spröde Schilderungen zum Leben zu erwecken, Konflikte sichtbar zu machen. Figuren zu zeigen, die handeln und mit denen man sich identifizieren kann.

Johan Simons hat den Roman des erst vor wenigen Wochen verstorbenen Siegfried Lenz nun in einer auf zwei Stunden verdichteten Form auf die Bühne des Thalia Theaters gebracht. Das ist anspruchsvoll, bannend und wird von einem wunderbaren Ensemble virtuos gespielt. Besser geht’s nicht. Und doch schaut man nach einer Stunde auf die Uhr, wenn wieder mal einer der Schauspieler abrutscht, klettert, sich am Boden krümmt.

Denn die Inszenierung, die mal einen der Schauspieler das Geschehen erzählen lässt, die dann ins Dialogische wechselt, wenn Vater und Sohn oder der autoritäre Dorfpolizist und der freiheitsliebende Maler zu Kontrahenten werden, wirkt seltsam statisch. Wie eine Versuchsanordnung. Zwar glänzend choreografiert, aber doch immer ein wenig so, dass man meint, durch ein Brennglas oder Mikroskop auf eine Epoche und ihre gefangenen und beschädigten Menschen zu schauen.

So hinreißend und augenfällig die Form ist, in der sich die Inszenierung mit ihrem Auf und Ab im aufgeklappten Buch präsentiert, so sehr engt sie auch jede weitere Möglichkeit des Spielens ein. Es gibt keinen Ausweg, das sehen wir, selbst wenn der Maler, der sich dem Malverbot widersetzt, gelegentlich auf die Spitze klettert und über den Rand des Bühnengebildes schaut. Sicher war es genauso ausweglos zur Nazizeit und ganz gewiss ist dies auch in treffende Bilder übersetzt. Aber es ist eben auch ein bisschen blutleer.

Zu Beginn des Abends Möwengeschrei und knarzende Bohlen. Jörg Pohl spielt Siggi, der in der Dunkelheit sitzt und der als Bilderdieb im Jugendknast einen Aufsatz über „Die Freuden der Pflicht“ schreiben soll. Siggi erinnert sich an seinen Vater Jens Jepsen, der zur Nazizeit als Dorfpolizist an der Nordsee das Malverbot überwacht, das über seinen Freund Max Ludwig Nansen verhängt wurde. Pohl sieht nicht nur so aus wie ein Junge in der Nachkriegszeit, mit frischem Kurzhaarschnitt, runtergerutschten Kniestrümpfen, kurzer Hose und Reißverschlusspullover mit Rhombenmuster, der wahrscheinlich kratzt, er spielt auch diesen Halb-Erwachsenen altersgemäß staunend, frisch, verwundert und immer wieder suchend, ob er sich an den strengen Vater oder den lebensklugen Maler anschließen soll.

Jepsen, der Vater und Polizist, ist ein Mann ohne Pardon. Jens Harzer, mit kantigem Seitenscheitel, schlank, eifernd, scheint ein Typ ohne Gefühle, dem jede Berührung lästig ist, es sei denn, er kann seinen Sohn Siggi prügeln und sich gleichzeitig einreden: „Ich werde aus dir etwas Ordentliches machen.“ Das Thema Pflichterfüllung treibt er bis zur Besessenheit. Selbst nach dem Krieg hat er nichts dazugelernt. Dankenswerterweise lässt Harzer das Irresein Jepsens nur aufflackern. Er könnte, wenn er wollte, kreischen bis zum Wahn, zur Karikatur. Aber er zeigt nur kurz auf, was alles in ihm lauert. Seine Frau Gudrun (Gabriela Maria Schmeide), Typ Nachbarin-die-sich-das-Maul-zerreißt, gehört zu den begeisterten Nazissen. Gemeinsam bildet das Paar – sie wirkt gemütlich, er eiskalt – jenes gefährliche Duo, das sich für den Maßstab des Normalmenschen hält und jeden für widernatürlich, der nicht so sein will wie sie.

Sohn Klaas (Sebastian Zimmler), der sich verstümmelt hat, um nicht in den Krieg zu müssen, erhält unerbittlich Hausverbot. Tochter Hilke (Franziska Hartmann) muss erst ihren Verlobten Addi (Ferdinand Reinsch) rausschmeißen, weil er Epileptiker ist, dann werfen ihr die Eltern vor, es sei eine „Schande“, dass sie sich von Nansen hat malen lassen. An allen drei Kindern offenbart sich der Generationenkonflikt, die Unfähigkeit der Eltern, ihnen Vorbild zu sein, sie zu selbstständigen Menschen zu erziehen. Vermeintliche Pflichterfüllung wird hier zur Vernachlässigung mit fatalen Folgen für die junge Generation, die orientierungslos nach Recht und Unrecht sucht.

Sebastian Rudolph als Maler Nansen nimmt sich offen, mutig, gradlinig aus. Rudolph klettert im Bühnengebirge neugierig herum, zeigt keine Angst vor dem bös-beseelten Jepsen. Ganz Künstlernatur lädt er ein zum Träumen, wenn er erzählt, was er sieht. Sein leeres Blatt „mit unsichtbarem Sonnenuntergang“ wirkt stärker als jedes wirkliche Bild. Als Jepsen Nansens Bilder konfiszieren will, stehen beide ganz nah beieinander, Aug in Auge und schauen sich an, dass es kein Ende hat. Ein Moment, der gern noch hätte weitergehen können, in der Macht und Ohnmacht, Bedrohung und Misstrauen liegen.

Ganz sicher spielt in dieser Deutsch-Doppelstunde ein großartiges Ensemble auf einer hinreißenden Bühne, in zeittypischen Kostümen (Henriette Müller), eine kongenial umgesetzte Dramatisierung (Susanne Meister) eines ganz großen deutschen Romans in einer eindringlichen Inszenierung. Und doch. Irgendetwas fehlt.

Nächste Vorstellung: 25.11., 20.00, Thalia Theater