Reality-Shows, die Wirklichkeit imitieren, gehören seit „Big Brother“ zum TV-Programm. Sat.1 hat jetzt eine Hochzeitsshow gestartet. Das Paar hat sich zum ersten Mal vor dem Traualtar gesehen.

Hamburg. Früher konnte man im Fernsehen als normaler Mensch maximal reich werden, im Zweifelsfall an Erfahrung: Spielshows lockten mit Geldgewinnen, die Talkshows der 90er-Jahre mit der Möglichkeit, auch noch die abstrusesten Neigungen einem Publikum vorzuführen.

Die Fronten zwischen Star und Normalbürger aber, sie waren geklärt. Dann kam „Big Brother“, nicht die erste, aber ohne Frage die einflussreichste der Reality-TV-Shows. Begleitet von einem medialen Dauersturm lief die erste Staffel vor 14 Jahren im deutschen Fernsehen. Die Kandidaten kennt heute zwar auch kein Mensch mehr, aber der Präzedenzfall war da: Gute Quoten kann man auch ohne Weltstars holen. Heute gehören echte Menschen, die vermeintlich echte Dinge tun, so selbstverständlich zum TV-Programm wie Nachrichten und Spielfilme.

Die (Sehn-)Sucht der Zuschauer nach dem Wahren, dem Realen, die dieser Form des Fernsehens zugrunde liegt, sie kennt kaum eine Grenze: Castingshows versprechen Ruhm, Datingshows die große Liebe und Dokusoaps Hilfe in jeder Lebenslage. Dafür sind die Kandidaten bereit, ihr Leben zu offenbaren, Einblick in ihr Denken und Fühlen zu bieten. Dass es meist nur darum geht, kostengünstig Menschen zur Schau zu stellen, ist anscheinend vielen immer noch egal.

„Experten“ basteln aus Singles ein Ehepaar

Der jüngste Auswuchs hört auf den Namen „Hochzeit auf den ersten Blick“ und läuft seit Sonntag bei Sat.1. Und trotz des nur bedingt quotenträchtigen Sendeplatzes um 17.55 Uhr schalteten 2,58 Millionen Menschen ein, um zuzusehen, wie vier senderernannte „Experten“ Amor spielen und aus Singles Ehepaare basteln, völlig ohne deren Beteiligung. Braut und Bräutigam lernen sich erst auf dem Standesamt kennen. So erwartungs- wie planungsgemäß gab es im Vorfeld verschiedentlich Empörung über die arrangierte Ehe.

Und die gehört ganz zentral zum Konzept des Reality-TV: Empörung über die unmenschliche Behandlung der Kandidaten, Empörung über gefühlte und tatsächliche Grenzüberschreitungen, Empörung darüber, dass sich nicht mehr Leute empören. Je höher die emotionalen Wellen im Vorfeld schwappen, desto besser für den Sender. So wird kostenneutral Aufmerksamkeit generiert.

Dabei ist das eigentlich Interessante an „Hochzeit auf den ersten Blick“ nicht die Tatsache, dass sich Singles finden, die bereit sind, einen Unbekannten zu ehelichen. Sondern die Konsequenz, mit der die Sendung darauf hinweist, wie „streng wissenschaftlich“ die Kriterien seien, nach denen eine Psychoanalytikerin, eine „psychologische Beraterin“, ein „Spezialist für Wohnpsychologie“ und ein Pastor ihre Entscheidung fällen würden.

Der Voyeurismus des Zuschauers wird entschuldigt

Diese Form der Selbstrechtfertigung, sich darauf zurückzuziehen, nur das zu tun, was einem wissenschaftliche Erkenntnisse diktieren, kennt man zwar auch aus anderen Formaten wie „Die Super Nanny“ oder Ähnlichem. Doch die Frequenz, mit der bei „Hochzeit auf den ersten Blick“ auf das vermeintliche Fundament der Show in der Welt der Hörsäle und Fachartikel hingewiesen wird, ist auffällig.

So wird der Voyeurismus des Zuschauers entschuldigt, ihm suggeriert, dass es in Wirklichkeit nicht um Quoten und Schlagzeilen geht, sondern darum, zwei füreinander bestimmte Menschen zusammenzubringen. Wie erfolgreich dieser Versuch ist, einen neuen Dreh in eine sattsam bekannte Form des Fernsehens zu bringen, bleibt abzuwarten.

Und auch der nächste Dreh an der Schraube der Extreme ist bereits bekannt: Im kommenden Frühjahr startet – ebenfalls bei Sat.1 – „Newtopia“. Da werden 15 Freiwillige auf einem nahezu leeren Gelände für ein Jahr kaserniert und sollen in Eigenregie nichts weniger als eine „neue Gesellschaft“ aufbauen.

„Dschungelcamp“ fährt hervorragende Quoten ein

Das erwiesenermaßen beste Rezept für Reality-TV hat indes RTL gefunden. Dessen „Dschungelcamp“ fährt nicht nur in jedem Jahr hervorragende Quoten ein, es hat es sogar aus der Schmuddelecke herausgeschafft, wird landesweit in den Feuilletons besprochen und war für den Grimme-Preis nominiert.

Das liegt daran, dass man dort keinen Hehl daraus macht, an den Voyeurismus zu appellieren, das vielmehr so offensiv wie gekonnt bewirbt. Und daran, dass man sich als Opfer für die Zurschaustellung nicht medial unbescholtene Normalbürger sucht, sondern mehr oder minder verzweifelte Fernsehgesichter auf der Suche nach dem Heilmittel für den Karriereknick.

Das Mitleid dafür, dass sie Ekelhaftigkeiten (und die Gesellschaft ihrer Mitspieler) über sich ergehen lassen müssen, hält sich in Grenzen: Man darf davon ausgehen, dass diese Menschen wissen, worauf sie sich einlassen. Im Gegensatz zu den „Bauer sucht Frau“-Landwirten, den Casting-Teenies bei „Deutschland sucht den Superstar“ oder eben den heiratswilligen Singles bei „Hochzeit auf den ersten Blick“.