Für Menschen aus den verschiedensten Kulturen ist die Hansestadt zur neuen Heimat geworden. In der Serie „Weltreise durch Hamburg“ stellt das Abendblatt sie vor. Teil 6: Italien

Hamburg. Arbeit, Geld und schöne Frauen. Das würde ihn in Deutschland erwarten, so hat es Vincenzo Andronaco den Erzählungen der Menschen aus seinem Dorf auf Sizilien entnommen, die sich schon vor ihm auf den weiten Weg gemacht hatten. Als er dann, kaum 18, an einem Wintertag des Jahres 1970 in Hamburg ankommt, erwarten ihn: Kälte und Schnee. „Es war 20 Grad unter null und grau ohne Ende“, erzählt Andronaco. Lange habe er sich gefragt, ob es hier wohl auch einmal den Himmel zu sehen gäbe. Zurückzukehren aber sei für ihn nicht infrage gekommen. Denn Andronaco hatte einen Plan: Er wollte sich etwas aufbauen in diesem scheinbar unwirtlichen Land.

44 Jahre später herrscht Andronaco über ein Imperium von acht italienischen Großsupermärkten. Von seinem Büro im zweiten Stock blickt er auf den Parkplatz vor seinem Stammmarkt in Billbrook. Wer Italien in Hamburg erleben will, könnte hier anfangen. Inmitten eines Gewerbegebiets taucht man ein in eine Welt der Gaumenfreuden. 7000 Produkte umfasst Andronacos Sortiment, allein 1250 Weine und 700 Sorten Nudeln. Vor allem aber findet man hier, was es in den ansonsten inzwischen auch gut sortierten deutschen Supermärkten nicht gibt: italienisches Flair. Ein Großteil der Mitarbeiter kommt aus Italien, es herrscht zwangloser Umgang. Im hauseigenen Bistro gibt es für kleines Geld große Portionen Antipasti, Nudeln, Pizza oder Tiramisu.

Andronaco, 63, ist eine Art Botschafter des guten Geschmacks in Hamburg. Seit mehr als 30 Jahren verkauft er italienische Lebensart, vor 14 Jahren eröffnete er den ersten Markt. „Als ich nach Deutschland kam, gab es aus Italien nichts.“ In seinem ersten Heimaturlaub habe er das Auto vollgeladen mit Lebensmitteln: Averna, Ramazzotti, Sambuca, Mortadella und Käse. Dinge, die es heute überall zu kaufen gibt.

Ginge es danach, braucht man Italien in Hamburg nicht zu suchen – man kann sich Italien gar nicht entziehen. Essen, Kaffee, Eis, Mode, Design – wer etwas auf sich hält, kauft und genießt „all’italiana“. Die Einwanderer, schreibt Michael Koglin in „Italien in Hamburg“, hätten die Einheimischen „mit ihrem ganz besonderen Charme bereichert. Um viele Tupfer azurblauen Lebensgefühls, ohne die es einige Grade kälter wäre in dieser Stadt.“

Der Einfluss ist umso bemerkenswerter, als nach offizieller Zählung nur etwa 7000 Italiener in Hamburg leben. Damit machen sie einen verschwindend geringen Anteil der 515.000 Menschen aus, die hier einen sogenannten Migrationshintergrund haben. Die Einwandererwellen aus dem Italien der 50er- und 60er-Jahre sind weiter südlich versickert, in München, Stuttgart oder Frankfurt, wo große Industriebetriebe Arbeitskraft für das Wirtschaftswunder benötigten. Und dann ist da noch die Entfernung: Bis zum Brenner sind es von Hamburg fast 1000 Kilometer. Und gefühlt fast so viele Klimazonen.

Und doch beschleicht nicht nur Koglin der Eindruck, als liege Hamburg „manchmal auch in Italien“. Um dieses Gefühl zu erhaschen, braucht man gar nicht zu Andronaco zu gehen oder sich von Ina Mierig in ihrer venezianischen Gondel über die Alster spazieren fahren lassen, braucht nicht die Sprachkurse im Kulturinstitut in Harvestehude oder die Filmvorführungen des Kulturvereins Contrasto in St. Georg zu besuchen. Mitunter reicht ein Spaziergang durch die nach italienischem Vorbild gebauten Alsterarkaden.

Glaubt man Koglin, dann hat die Stadt unter dem Eindruck von Goethes „Italienischer Reise“ schon immer einer besonderen Sehnsucht nach dem Süden gefrönt. Um die vorletzte Jahrhundertwende wurden auf dem Heiligengeistfeld Italien-Freilichtausstellungen abgehalten. Fliegende Händler kamen mit Schuhen und Tüchern. 1905 eröffnete Francesco Cuneo sein Restaurant an der Davidstraße. Er war als Straßenmusiker nach Hamburg gekommen. Die Gäste waren anfangs vor allem Landsleute, Seefahrer oder Arbeiter, die auf der Elbtunnel-Baustelle schufteten. In den 60er- und 70er-Jahren stieg das Lokal zum Promi-Treffpunkt auf.

Das Cuneo war der erste italienische Gastronomiebetrieb der Stadt. Heute listet das Branchenbuch 269 italienische Restaurants. Eines ist das Mario in Eppendorf. Bei Tagliatelle mit Kalbsnieren oder Roastbeef auf Rucola trifft sich hier einmal im Monat die Società Dante Alighieri – Deutsch-Italienische Gesellschaft, kurz DIG. An diesem Donnerstag haben sich ausschließlich Deutsche eingefunden. „Die Italiener nehmen gar nicht so viel teil“, sagt Susanne Mulzer, 63, die Präsidentin der DIG. Seit 1948 gibt es ihren Verein. Die Ältesten der 170 Mitglieder haben den ersten Gastarbeitern noch geholfen, Fuß zu fassen. Sie alle eint die Sehnsucht nach Italien, „nach dieser besonderen Lebhaftigkeit“. Es sind auch und gerade Deutsche, die die italienische Kultur in Hamburg hochhalten. Die DIG organisiert Ausstellungsbesuche, man trifft sich zu Konversations- und Literaturkursen, es gibt Filmabende, Konzerte, Vorträge. Und natürlich Kochkurse, Weinproben und Ölverkostungen. Denn die Liebe zu Italien geht immer wieder durch den Magen.

So geht es auch Julika Repplinger und Sofia Melik Aslanian. Die Hamburger Rechtsanwältinnen haben 2009 mit italienischen Gastronomen den Verein Artisti del Belpaese gegründet. Er will „die deutsch-italienische Freundschaft vertiefen und die kulturelle, landschaftliche, kulinarische und sonstige Schönheit Italiens und die italienische Lebensart mit ihren wunderbaren Bräuchen näherbringen“. Ganz konkret zeichnet der Gastronomieverein Betriebe aus, die Kochkunst und Lebensart vereinen. „Nicht in allen Lokalen, wo Italien draufsteht, ist auch Italien drin“, sagt Repplinger: „Uns geht es darum, die authentischen Italiener zu fördern.“ Gut 30 Restaurants haben ein entsprechendes Siegel erhalten.

Bei einer Feier haben die beiden jungen Juristinnen Anton Andreas Rößner kennengelernt. Der Hamburger Kaufmann (Weinland Ariane Abayan) hat sich als einer der führenden deutschen Händler für italienische Spitzenweine einen Namen gemacht. Im September wurde er zum Honorarkonsul ernannt. Jetzt finden die Italiener der Stadt in Rößners Privatvilla in Harvestehude wieder eine Anlaufstelle, wenn es etwa um Pass- oder notarielle Angelegenheiten geht. Bislang mussten sie dafür nach Hannover fahren – das einstige Generalkonsulat an der Feldbrunnenstraße hatte der italienische Staat 2009 aus Kostengründen eingespart.

„Die Nachfrage ist riesengroß, das Wartezimmer ist immer voll, obwohl wir nicht nicht einmal offiziell eröffnet haben“, berichtet Sofia Melik Aslanian, die mit Julika Repplinger das Konsulat leitet. Die Kosten bestreitet Rößner, 54, aus seinem Privatvermögen. Aus Liebe zu Italien, „dem für mich schönsten Land der Welt“. Entfacht worden sei dieser Schwarm, als er als junger Mann durch Europa getingelt sei, auf der Suche nach guten Weinen für den Heimatmarkt: „Die deutschen Winzer fragten immer nach Vorkasse, die Franzosen hatten keine Zeit. Die Italiener haben mir als Einzige eine Chance gegeben.“ Wenn Hamburg heute auf den italienischen Geschmack gekommen ist, ist das wohl nicht zuletzt Rößners Verdienst.

Es mag aber auch an der Mentalität der Stadt liegen. „Die Italiener“, sagt Rößner, „haben sich hier immer wohlgefühlt, weil Hamburg Fremden gegenüber besonders offen ist.“ So hat es auch Giacinto Capogna empfunden. Als er 1960 aus Apulien ins ferne Amburgo kam, „habe ich mir geschworen: Hier gehe ich nicht mehr weg. Die Stadt gefiel mir sehr gut, sie war Neuankömmlingen gegenüber neutral eingestellt. Und ich hatte anders als in der Heimat immer genug Geld.“ 36 Jahre lang hat er bei der Norddeutschen Affinerie (heute Aurubis) gearbeitet. Und er hat stets den Kontakt zu den Deutschen gesucht.

Die Gottesdienste in der Katholischen Italienischen Mission in Hohenfelde besucht Capogna, 73, erst seit Kurzem. Etwa 60 Gemeindemitglieder sind gekommen, um der Predigt von Padre Silvestro Gorczyca zu lauschen und den Abend im Gemeinderaum bei Wein oder Espresso ausklingen zu lassen. Es sind auffällig viele junge Menschen dabei. Seit einigen Jahren bietet Hamburg italienischen Arbeitskräften wieder eine Perspektive, die es in der von der Wirtschaftskrise gebeutelten Heimat nicht mehr gibt. Wer entsprechend qualifiziert ist, kann sich bei Desy oder Airbus eine neue Existenz aufbauen.

Pietro Cuccumazzo, 49, und Nicola Deserto, 51, sind Ende Juni hier angekommen. Sie haben für einen Gabelstaplerhersteller nahe Bari gearbeitet. Als das Werk geschlossen wurde, nahmen sie das Angebot des Konzerns an, zum Hamburger Standort zu wechseln. Ihre Berufserfahrung aber wurde bei der Gehaltseinstufung nicht angerechnet, die Unterkünfte, die ihnen vermittelt wurden, waren heruntergewohnt und überteuert, nicht einmal das Kindergeld sei ausgezahlt worden. „Und wir dachten, so etwas gäbe es nur in Italien“, sagt Cuccumazzo, der Frau und Töchter inzwischen nachgeholt hat. Sie haben sich vorgenommen, sich nicht entmutigen zu lassen. So wie einst Vincenzo Andronaco.