Michael Kleebergs glänzender Hamburg-Roman „Vaterjahre“ erzählt von einer Stadt und ihren Menschen

Hamburg. Großstädter schauen mit Überheblichkeit auf die Pendler aus dem Umland und die dörflichen Metropolen-Touris. Das ist überall so. In unserer Stadt kommt der spöttisch Beäugte und als Teilnehmer des Gesellschaftslebens immer auch Marginalisierte aus: Pinneberg. „Der Pinneberger“ ist eine Chiffre für den im Vergleich zum Stadtmenschen unsmarten Zeitgenossen.

Dem von mittelschweren Karriereängsten geplagten Karlmann „Charly“ Renn erlaubt die Herkunft seines Freundes und Konkurrenten Kai, sich vom Makel der scheinbaren Unterlegenheit zu reinigen. Kai, der Pinneberger, geht erst zu McKinsey und anschließend unternehmensberatend in Charlys Firma. Außerdem hat er noch nebenbei eine Doktorarbeit geschrieben, während Charly sich in Liebeswirren verstrickte und lethargisch seine Tage verbrachte. Da kann man schon mal ins Grübeln geraten!

Aber am Ende gerät alles zum Besten Charlys, der Hauptfigur in Michael Kleebergs glänzendem Hamburg-Roman „Vaterjahre“. Er wechselt kurz nach der McKinsey-Heimsuchung – die für ihn keinerlei negative Bewertung nach sich zog – zu dem traditionsreichen, urhamburgischen Kautschukunternehmen Sieveking & Jessen, das im Chilehaus beheimatet ist. Jeden Tag kann Charly, der als Volkswirt Ordnung in die weltweiten Gummi-Transfers der Firma bringt, nun auf den Hafen glotzen. Abends fährt er in den Vorort, wo in Hübners Vorgarten die rot-weiß-blaue Schleswig-Holstein-Flagge weht und Ehefrau (schlank, sportlich, Ärztin) nebst Kindern (Töchterchen: große Liebe, Söhnlein: bald schon Erinnerung an die eigene Unvollkommenheit) warten.

Es ist gut gelaufen für die von Kleeberg bereits 2007 in dem 80er-Jahre-Roman „Karlmann“ in die deutsche Gegenwartsliteratur installierte gewöhnliche Gestalt Charly Renn. Eine so gewöhnliche Gestalt, dass sie auch in dem zweiten Band der sich zur Saga auswachsenden Lebensbeschreibung prima als Spiegelfigur aller Normalen, Alltäglichen, Banalen, aller Kämpfenden, Genießenden, aller Durchschnittlichen taugt. Wir begleiten Charly Renn auf seinen Wegen durch die Mittelschichtsexistenz und lassen uns von dem seines Stils sehr sicheren Erzähler Kleeberg dabei trotzdem überraschen. Denn Charly, der sensible und für ein wunschlos glückliches Leben viel zu reflektierte Mann in seinen mittleren Jahren, wird bisweilen nicht nur von körperlichen Krisen auf der Köhlbrandbrücke ereilt, er hat auch, wie sich erst verhältnismäßig spät in diesem unterhaltsamen, zärtlichen und stellenweise tragikomischen Roman herausstellt, einen kaum bezähmbaren Ossi-Hass.

Die Gattin stammt aus der ehemaligen DDR, dem einen geschichtlichen Pol dieses auch der gesamtgesellschaftlichen Chronistenpflicht Genüge tuenden Buches; der andere ist 9/11, wo „Vaterjahre“ endet.

Hier wird von den 90er-Jahren erzählt, wo die Ost-Verwandtschaft stur und trotzig gegen die neuen Verhältnisse stänkert und die alten exkulpiert. Wo Hamburg ein stabiler Ort ist, der dem neuen, aufregenden, durchlässigen und immer auch unseriösen Berlin das ganz alte Prinzip des hanseatischen Wirtschaftens entgegenstellt. Als Charly erstmals im Chilehaus bei seinem neuen Arbeitgeber vorstellig wird, macht die Architektur mächtig Eindruck: „Dieses steinerne Schiff, dieser backsteinrote Klipper, dieser den Asphalt durchflügende Eisbrecher des Handelsgeistes, dieser gotisch-avantgardistische Nautilus des Kommerzes, diese futuristische Kathedrale der beschleunigten Linien, dieser dürersch-expressionistische Holzschnitt unter dem immensen, wolkengetürmten Hansehorizont, das war Hamburg: seine kühne Gediegenheit, seine solide Freibeuterei, seine honorige Chuzpe, seine himmelstürmende Bodenständigkeit und seine ästhetische Kaufmannsklugheit“.

So spricht und denkt Charly, ein Mann, der die Nöte kennt, die mit dem heimeligen Familienleben einhergehen: Man wollte doch ein aufregendes Dasein haben. So spricht und denkt Charly, der seine Kinder liebt und bei dem auf hinreißende Art geschilderten Aufeinandertreffen mit der Ex-Frau bemerkt, wie trefflich diese als Renommierobjekte eingesetzt werden können. So spricht und denkt Charly, dessen Anschlussfähigkeit an unser aller moralisches oder unmoralisches Handeln – Egoisten, die wir sind – auf jeder Seite bewiesen wird und der sich in den Oden an die Heimat wortgewaltig in ein aberwitziges Patrioten-Pathos deliriert.

Die „Anbetung des Götzen seiner Stadt“ geht über in ein „Dankgebet zum weltläufigen, gewandten, geschliffenen und gepichten Gott Mammon dafür, ein Teil dieses Organismus, dieses lebendigen Nexus sein zu dürfen“. Es gibt nur wenige Ortswechsel in „Vaterjahre“. Einmal fahren Charly und sein Buddy in die neue Hauptstadt, die Hamburg und allen anderen westdeutschen Möchtegern-Metropolen den Rang abläuft. „Gott, ist das hässlich“, rufen die beiden Gäste aus und sehnen sich ins ästhetisch ungebrochene Hamburg zurück.

Kleeberg, der 1959 in Stuttgart geboren wurde und in Hamburg seine Jugend und frühen 20er verbrachte, ist literarisch dann besonders stark, wenn er Szenen schildert, in denen das Entblößungspotenzial der Gattung Mensch besonders hoch ist; wenn er Dialoge zu Papier bringt, die das entlarven, was man unsere Schwächen nennt.

Trotzdem sind die Menschen, von denen Kleeberg erzählt, zuvorderst natürlich seine Hauptfigur, unbedingt als liebenswert zu bezeichnen – manchmal spricht sie der Erzähler sogar selbst an. Er befleißigt sich ziemlich gerne auch der Ironie, und damit ist sehr viel über „Vaterjahre“ gesagt: Der Roman führt vor, wie es sich anfühlt, im bürgerlichen Leben anzukommen. Aber er spiegelt das Missbehagen an diesem Ankommen immer auch mit und schafft es, die Pendelbewegung zwischen Distanzierung und Liebeserklärung in unwiderstehlicher Manier darzustellen.

Michael Kleeberg liest Mi 3.9., 19.30 Uhr im Literaturhaus, Moderation: Armgard Seegers

Michael Kleeberg: „Vaterjahre“. DVA, 512 Seiten, 24,99 Euro