Das Heavy-Metal-Festival Wacken Open Air bietet jede Menge unvergessliche Erlebnisse. Unser Autor feiert gerade seine zehnte Ausgabe seit 1998 und beschreibt, wie Wacken sich in all den Jahren verändert hat. Und warum es dort trotzdem noch so toll ist

Wacken. Langhaarige Jungs liegen wie gestrandet in einem Meer von leeren Pilsflaschen und umgestürzten Bierkisten, die T-Shirts mit den Schriftzügen von Bands wie Entombed, Metallica und Sepultura verschwitzt, die Augen zu Bunkerschlitzen verengt und doch glücklich strahlend. Kurz: Jungs bei ihrem ersten Wacken Open Air im Jahr 1998. Nicht selten rufen wir uns dieses Bild gedanklich zurück, besonders jetzt. Wieder in Wacken, aber im Jahr 2014. Es ist unfassbar, wie sich alles verändert hat.

Damals war das Festival gerade im Begriff, sich einen Namen im wachsenden Angebot der Open-Air-Sausen zu machen. Rock am Ring auf dem Nürburgring war schon lange dick im Geschäft, Roskilde in Dänemark das Maß aller Dinge, das Hurricane Festival in Scheeßel ging in sein zweites Jahr, und Wacken nannte sich auf den Bierbechern schon „Kultfestival“. Ein Kultfestival, das 1996 eigentlich vor dem Ende stand. Von der Premiere 1990 auf einer Lkw-Pritschenbühne bis 1995 buchten die Veranstalter Holger Hübner und Thomas Jensen mit ihren damaligen Mitstreitern der ersten Stunden immer größere Namen wie Doro, Fates Warning oder Tiamat, aber die Zuschauerzahlen mit einigen Tausend Metalfans brachten keine schwarzen Zahlen ein. Das vermeintlich letzte Aufbäumen mit hohem Risiko war der Auftritt der so umstrittenen wie populären Böhsen Onkelz 1996. Mehr als 10.000 Rocker pilgerten in das überraschte Dorf, Bier und Umsätze flossen in Strömen, es konnte weitergehen.

Die Wacken-Premiere 1990 fand auf einer Lkw-Pritschenbühne statt

Wir entdeckten eine Werbeanzeige für Wacken ’98 im Metalmagazin „Rock Hard“ und wussten sofort: Da mussten wir hin. Drei Autos, drei Igluzelte, für jeden zwei Kästen Astra und täglich drei Dosen Texas-Bohneneintopf. Das sollte doch reichen. Und die ersten Eindrücke waren prägend: Die ganzen Wiesen voller Metaller, weit mehr als 10.000 Menschen wie wir, die ihre Leidenschaft für Death-, Black-, Speed- und Thrash Metal gemeinsam ausleben wollten. Es war eine große Verbrüderung von Einzelgängern, denn Heavy Metal war in den 90er-Jahren weitgehend eine kommerzielle Randnotiz zwischen Grunge, Crossover und Alternative Rock. Mädchen und Jungen, die Lieder über Drachenbefreien und Jungfrauenverdreschen (oder war es umgekehrt?), über Tod und Verderben hörten, waren selten die „Coolen“ in der Schulklasse, im Musikfernsehen von Viva und MTV wurden andere Töne angegeben. Und das Internet, diese Such- und Findemaschine für Gleichgesinnte, war noch Gesprächsthema der Nerds. Wobei die nicht selten bevorzugt Metal hörten.

Aber in Wacken 1998, da waren wir unter uns. Wir feierten jede Band, die wir sahen, die ultrabrutalen Avantgarde-Klopper Totenmond ebenso wie die Fantasy-und-Tolkien-Melodiemaschine Blind Guardian. Stratovarius und Iced Earth? Klasse! Klamauk-Metal von J.B.O.? Her damit. Wir trugen uns gegenseitig auf den Schultern, Oberkörper frei, und headbangten, was die Nackenmuskeln hergaben. Das Bier schwappte aus den wippenden Bechern in die Haare der starken Männer, die uns trugen. Oder besser: ertrugen. Drei Dosen Texas-Bohneneintopf pro Mann täglich hatten entsetzliche Folgen für die Umstehenden. Und für uns, denn die Organisation von Toilettenhäuschen und Duschcontainern war, gelinde gesagt, unter aller Sau. Egal, in Wacken durfte man sich auch mal vorbeibenehmen und ordentlich bechern ... bis das mitgebrachte Bier schon vor dem letzten Festivaltag in den Kehlen versiegt war. Das spärliche Bargeld, 80 Mark für ein Ticket war viel Geld damals für Studenten, ließen wir im winzigen festivaleigenen Supermarkt, wo wir in einer Ecke noch einsame Dosen Alsterwasser auftreiben konnten. Die wurden brüderlich geteilt, dann war Schmalhans Schankmeister.

Aber 1999 kamen wir wieder. Mit mehr Bier. Viel mehr Bier. Und 2000, 2001, 2002 ... die Zahl unserer Mitfahrer wuchs enorm, die Zahl der Wackenbesucher insgesamt noch enormer. 20.000, 30.000, 40.000. 75.000. 80 Bands, 100 Bands, 130 Bands. Graf Zahl war kein Gothic-Rocker, er war Metaller. Das begann sich herumzusprechen, zuerst in der Metalszene, dann in den überregionalen Tageszeitungen und Nachrichtenmagazinen (siehe Leitartikel auf Seite 2). Die Organisation und die Infrastruktur konnten kaum Schritt halten und sorgten für Ärger im Umfeld von Medienpartnern und Präsentatoren des Festivals. Aber wir bekamen das kaum mit vor lauter lauten Bands und dem einen oder anderen Getränk.

Aber jetzt, beim 25. Jubiläum des bereits seit einem Jahr ausverkauften „Holy Wacken Land“, kommt dann doch der Tag für falsche und richtige Sentimentalitäten. Die offiziell 75.000 zahlenden Gäste müssen ein Witz sein, denn auf den Campingplätzen, den Wegen zu den Bühnen und den Marketing- und Gastronomiebereichen wälzt sich eine unüberschaubare Menge nach hier und dort. Zum Beispiel zur Glammetal-Band Skid Row am Freitag auf der großen „True Metal Stage“. Dieses Relikt der 80er-Jahre hätte früher beim undankbaren Mittagsslot um 12Uhr vielleicht ein Häufchen Unentwegte und Frühaufsteher auf das Hauptgelände gelockt. Aber dieses Jahr reißen Zehntausende in der prallen Sonne die Hände hoch, und am Vorabend bei Accept zur Primetime ist nirgends ein Durchkommen, um Klassiker wie „Balls To The Wall“ oder „Fast As A Shark“ nicht nur mit den Ohren, sondern mit den Augen zu erleben. Bei Heaven Shall Burn am Freitag wälzt sich – so ist es schon Tradition in Wacken – wieder eine riesige Stampede im Kreis. Der „Circle Pit“ lässt Staubwolken in den Himmel steigen, dass man hofft, die Bundeswehr werde ihre dauernden Werbetiefflüge mit Eurofightern, Tornados und Transalls unterbrechen. Im „Wackinger“-Dorf vermöbeln sich Ritter und Söldner oder verhökern mittelalterliche Merchandising-Artikel. Im „Metal Heart“-Zelt treffen sich Liebeshungrige bei „ruhigeren Metalhymnen“, es gibt Wrestling- und Erotik-Shows, riesige Händler- und Futtermeilen. Überall prangt der Kuhschädel, das Wacken-Logo. Auf der Autobahn auf Hinweisschildern, auf Bierbechern und natürlich auf dem Sortiment von „W:O:A“-Krimskrams, der vom klassischen T-Shirt bis zu Dildos und sogar Waschbecken-Abflussstöpseln reicht. Damit man auch zu Hause morgens beim Zähneputzen weiß, wo man wenige Tage vorher war. Eine Totalvermarktung, die bei vielen Metalfans ebenso für Unmut sorgt wie „unmetallische“ Gäste, dazu gehören die Shantyrocker Santiano oder Gaga-Jazzer Helge Schneider, der die Band Starchild einen Song lang am Keyboard begleitet.

Flaggen von Wacken, Ukraine, Russland und Georgien hängen an einer Stange

Das ist der Preis des Erfolges, den jeder Besucher mit 170 Euro pro Ticket mitbezahlt. Wacken 1990 war ein Dorffest, Wacken 1998 war ein Metalfestival, Wacken 2014 ist eine weltweit berühmte Marke, ein Medienereignis. Aber es gibt immer noch etwas in Wacken, das man nicht mit Stahl, Blei oder Gold aufwiegen kann: Die Metaller. Einträchtig hängen im Zeltlager neben uns die Flaggen von Wacken, Ukraine, Russland und Georgien an einer Stange, man spricht deutsch, spanisch, englisch, französisch, niederländisch.

Und nach einer Stunde Fußmarsch durch die „Generatorhölle“ des Campingplatzes, wo neben den Autos private Benzingeneratoren die brüllenden Musik- und schäumenden Zapfanlagen antreiben, wartet das Ziel. Noch gilt es, die 23. Bande von Wegelagerern zu passieren, die Frauen Freibier bieten, wenn sie ihre Brüste zeigen (bei Steel Panther am Donnerstag tun es Dutzende für lau, um mit auf die Bühne zu dürfen). Aber dann sind wir da. Ein roter Teppich führt an Zelten vorbei unter einen Pavillon. Aus den Boxen warnt Pantera-Sänger Phil Anselmo vor den „Cowboys From Hell“, es wird umarmt und geherzt. Ein kühles Blondes wird gereicht, denn es gibt genug davon in den diversen 50-Liter-Fässern. Man erzählt sich von den Bands, die man erlebt hat, von den netten neuen Bekanntschaften, die geknüpft wurden, und natürlich erzählt man sich wie jedes Jahr vom ersten gemeinsamen Wacken 1998. Vieles hat sich verändert, aber geblieben sind die Brüder und Schwestern in Metall. 75.000 sind es hier, ja vielleicht sogar noch viel mehr. Und es ist wunderbar, dass es sie gibt. Die Welt ist dröhn.

„Wacken 2014“, Sa 2.8., 20.15 Uhr, 3sat