Der Auftritt von Carolin Widmann und einigen Tänzern polarisierte

Hitzacker. Sie wolle den frischen, lebensfrohen Charakter des Phänomens Tanz ausloten, aber zugleich auch dessen eher melancholische Facetten beleuchten, hatte Intendantin Carolin Widmann vor Beginn der Sommerlichen Musiktage Hitzacker gesagt. Kaum eine andere Gattung dürfte dieses Versprechen stimmiger einlösen als der Tango. Davon konnten sich die Festivalbesucher am Sonntag überzeugen: Das Ensemble Tango Factory balancierte die emotionale Ambivalenz der Musik sehr schön aus: Mit der munteren, teilweise überschäumenden Virtuosität des Pianisten Matan Porat auf der einen und den wunderbar weltschmerzlichen Harmonien des argentinischen Bandoneonisten, Träumers und Arrangeurs Marcelo Nisinman auf der anderen Seite des Spektrums. Trotz der mitunter rauen Akkorde und beißenden Geräuschklänge blieb der sinnliche Sog des Tango immer gewahrt. „Und dabei soll man nun still sitzen!“, stöhnte ein weiblicher Stammgast stellvertretend für die begeisterten Hörer im Saal, in dem viele Köpfe, Hände und Füße im Takt mitwippten.

Ganz anders die Stimmung nach dem Konzert am Sonntagabend. Da schieden sich die Geister. Und zwar gewaltig. Unter dem Motto „Über Bande“ hatte Carolin Widmann ihrer Festivalfamilie ein Experiment zugemutet: Die Weltklassegeigerin spielte nicht nur ein krasses Programm mit Solowerken von Biber und Bach bis zu Bartók und Boulez – was außerhalb von Liebhaberfestivals à la Hitzacker kaum denkbar wäre –, nein, sie wurde auch noch Teil einer improvisierten Choreografie mit jungen Tänzern aus dem Umkreis von Sasha Waltz. Die vier Körperkünstler – zwei Männer und zwei Frauen – nahmen Impulse aus der Musik auf, um sie spontan mit zuckenden Zitteraalgesten, ekstatischem Kreisen oder auch zärtlichen Knäuelbildungen in ihre Bewegungssprache zu übersetzen und sich dann auch immer wieder aus dem Zusammenhang mit dem Klang zu lösen.

Wie sie Carolin Widmann dabei in ihren akrobatischen Tanz einbezogen, wie sie die Geigerin als eine Art biegsame Puppe schweben ließen und kopfüber auf die Bühne trugen: Das war atemberaubend. Oder auch beklemmend, je nach Wahrnehmung. Die führte zu extrem gemischten Reaktionen, zwischen geradezu ekstatischem Zuspruch und erbitterter Ablehnung. Manche Besucher vermissten ein stringenteres Miteinander von Musik und Tanz, andere beklagten die eingeschränkte Sicht oder empfanden gar das ganze Konzept als Reinfall.

Aber solche konträren Ansichten sind eben der Preis dafür, wenn man aus der Komfortzone der gewohnten Rituale ausbricht. Wenn Carolin Widmann sich von zwei Tänzern über ein schmales Geländer führen lässt, dann steht dieser fast buchstäbliche Drahtseilakt sinnbildhaft für jenen echten Wagemut, den der Musikbetrieb, ja, die ganze Kunstpraxis überhaupt, so dringend nötig hat.

Sommerliche Musiktage Hitzacker bis 3. August