Was passiert am Tresen hinter der Bühne des Schauspielhauses, während auf der Bühne fast sieben Stunden lang „Die Rasenden“ toben? Joachim Mischke hat sich das Künstlerbiotop genauer angesehen

Geschichten, die mit „Es war einmal ...“ beginnen, ertrinken gern in Nostalgie. „Früher war alles besser“, „Alter, weißt du noch“, so was. Doch selbst wenn man nur einen kleinen Teil der Dinge glaubt, die von Veteranen unter dem Siegel der Verschwiegenheit über die besseren alten Zeiten in Theaterkantinen angedeutet werden, muss einiges dran gewesen sein an diesen Vorstellungen ohne Publikum. 1997, diese Geschichte ist längst ein Klassiker, hat Leander Haußmann, damals Intendant in Bochum und noch nie ein Kind von Traurigkeit, seinen Hausregisseur Jürgen Kruse in der Kantine verdroschen. Ob es um Inszenierungsdetails ging oder um Unwichtigeres wie Geld, Frauen oder Liebe, ist nicht so genau überliefert. Ist aber eigentlich auch egal. Als ein Naturereignis wie Ulrich Wildgruber noch lebte und ein Cholerik-Virtuose wie Peter Zadek Schauspielhaus-Chef in Hamburg war, was müssen das für Kantinen-Zustände gewesen sein, damals.

„Bei Taboris ,Mein Kampf‘ war ein Huhn mit dabei, das lebte auf der Kantinen-Terrasse.“ Viel mehr als dieser Satz über das Berliner Maxim-Gorki-Theater ist nicht nötig, um zu kapieren, was das Besondere ist an einer deutschen Kantine, wenn sie sich in einem Theater befindet. Der König von Mykene wird ihn am späten Abend sagen, während er wieder zu Kräften kommt, aber so weit sind wir noch längst nicht.

16.50 Uhr: Trotz der drückenden Hitze vor der Tür ist die Schauspielhaus-Vorstellung gut besucht. Der Countdown läuft, in zehn Minuten soll der „Rasenden“-Marathon beginnen. 120 Mitwirkende, Chor, Musiker, die volle Staatstheater-Dramendröhnung. In der Kantine dagegen ist noch alles entspannt. Ein Bühnentechniker jongliert routiniert seine Hauptmahlzeit vor sich her. Anne Müller, die Iphigenie in der ersten Episode, lässt sich im Requisiten-Flur Schwimm-Tipps von Pressesprecher Thomas Müller geben. Gleich beginnt die Show. Unter der übergroßen Uhr an der Kantinenwand, die alle Schauspieler-Entschuldigungen für Unpünktlichkeiten aushebelt, warten vier Mitarbeiter darauf, in der großen Pause im Ballettsaal die Streichinstrumente des Ensembles Resonanz vom Ascheregen des Trojanischen Kriegs zu reinigen.

„Die Welt verbessern, das ja. Aber das Sich-auf-die-Lampe-Gießen, das hat wahnsinnig nachgelassen“, sagt Thomas Schröter, einer der Schauspielhaus-Kantinenwirte, kurz nachdem die Vorstellung des Tages begonnen hat.

Klassische Theaterkantinen funktionierten immer nach der Regel „Was in Las Vegas passiert, bleibt in Las Vegas“, hier waren die Künstler unter sich. Die Wände von heiß geliebten Schauspielertränken waren imprägniert gegen das stinknormale Leben draußen vor der Tür, mit einer dicken Schicht Patina aus Beziehungsdramen und Nikotin, heilen und geplatzten Träumen, aus Egoismus und Verzweiflung.

Da Theaterkantinen immer auch Wartesäle zum nächsten Glück sind, hatte sich während der Schauspielhaus-Intendanz von Frank Baumbauer die Bühnenbildnerin Anna Viebrock um die Inneneinrichtung gekümmert. Ihre Spezialität sind leise verzweifelte Kleinbürger-Reservate; Räume, denen man ansieht, dass sie leicht muffig riechen, nach breitgetretenen Gesundheitsschuhen und aufgewärmter Dosensuppe. Doch auch diese Viebrock-Inszenierung ist inzwischen nur noch eine weitere von vielen Weißt-du-noch-damals-Geschichten an der Kirchenallee. Michael Wittenborn und Markus John haben viel Zeit, sie sind, noch Hunderte Textzeilen entfernt, erst in der „Orestie“ dran. Etwas Nervennahrung in einer ruhigen Ecke, danach dezenter Abgang nach links.

Die Pflicht ruft, die Maske oder beides. „Ich wünsche euch allen eine schöne achte Vorstellung“, kommt als Durchsage von Chefinspizient Olaf Rausch durch den Lautsprecher, mit einem derart entspannten Tonfall, als wäre das hier ein Wellness-Bereich und nicht ein Hochkultur-Kessel, der bis kurz vor Mitternacht unter Hochdruck stehen wird.

Die Kantine ist sehr ordentlich. Helle Wände, freundliche Farben. Modern, unverbindlich, ungefährlich. Kein geschützter, vor den Augen des Publikums verborgener Raum mehr, kein dunkel verrauchtes Reservat, in dem sich Sitzriesen gepflegt danebenbenehmen und in endlosen Debatten über den Sinn des Lebens oder den Wahnsinnsgrad des Regisseurs festfaseln konnten. Alkohol war Grundnahrungsmittel und Treibstoff für Regie-Konzepte. Viele fanden sich, manche trennten sich. Man konnte sich die Rolle schöntrinken und den dazugehörigen Partner gleich mit. Erlebnisgastronomie mit sehr viel Gruppendynamik. Kinder wurden hier wahrscheinlich nicht gezeugt. Aber vorbereitet.

17.00 Uhr: Anpfiff im Saal. Es wird ruhig in der Kantine. Zeit für das erste Gespräch mit Schröter, einem der beiden Betreiber. Der Hunger nach Leben wird nur wenige Meter Luftlinie entfernt im Scheinwerferlicht gestillt, für den leiblicheren Hunger hier im Souterrain sind Schröter und sein Kompagnon Ori Tondowski zuständig. Amtliche Portionen, günstige Preise. Penne mit Gulasch zum Beispiel, 4,90 Euro für die Mitarbeiter, lecker und reichlich. Die Currywurst mit Pommes werde bei Touristen-Stadtrundfahrten lobend erwähnt, sagt Schröter stolz. Er kennt den Tresen hier und den Umgang mit den sehr besonderen Kunden von beiden Seiten: Nachdem er seit 1995 Technischer Leiter für die kleinen Spielstätten war, wechselte er im letzten Jahr in die Gastronomie. „Nicht viel anders als vorher“, meint er und schiebt mit breitem Grinsen hinterher: „Das Schöne hier ist, dass man es mit Schauspielern zu tun hat.“ Hin und wieder ist Schröter, wie es sich für jeden guten Wirt gehört, auch Beichtvater für die 350 Mitarbeiter. „Ehen entstehen hier weniger, ich glaube, sie zerbrechen eher“, wegen der Arbeitszeiten, meint Schröter. Tondowski bringt die spezielle Atmosphäre mit „Theater ist Theater ...“ auf den Punkt und fügt zur Charakterisierung seiner Stammgäste nachsichtig lächelnd hinzu: „Was um zwölf abgemacht wird, gilt um Viertel nach zwölf schon nicht mehr. Es ist unglaublich vielschichtig hier. Für mich ist das eher ein Hobby, hier ist eine unglaubliche Energie.“

19.05 Uhr: Das Erste, was von Agamemnons Frau Klytaimnestra zu sehen ist: ihre Marge-Simpson-Turmfrisur. Maria Schrader, die im „Orestie“-Teil der „Rasenden“ noch eine Menge zu tun haben wird, ist unter der Perücke bereits auf Drama Queen geschminkt. Aber Zeit für einen Kaffee muss noch sein. Und das Wasser für die Garderobe bitte ohne Kohlensäure.

In der Küche werden die vorbestellten „Rasenden“-Teller für das Publikum vorbereitet, Grillgemüse, Schafskäse, passend zu den Dramen aus der griechischen Antike. Neben dem Monitor, auf dem man das Bühnengeschehen verfolgen kann, haben sich inzwischen Joachim Meyerhoff und Gustav Peter Wöhler geparkt. Meyerhoff liest und hat zwischendurch noch ein Radio-Interview auf dem Tagesplan. Wöhler isst. Im vorderen Bereich taucht plötzlich Joachim Król auf, gerade mit einem Gastspiel von „Szenen einer Ehe“ aus Stuttgart am Thalia, mit leicht suchendem Gesichtsausdruck. Bevor er gefragt werden könnte, ob er sich in der Adresse geirrt hat, ist Król wieder weg.

20.05 Uhr: Bevor es als Elektra in deren Kellerverlies geht, braucht Birgit Minichmayr noch eine Flasche Wasser. Ansprechbar wirkt der Burgtheater-Star nicht, eher wie eine 100-Meter-Läuferin im Startblock. Unterdessen werden einige Etagen höher im Ballettsaal die Instrumente poliert, der Chor versucht die Spannung zu halten. Und die Streicher vom Ensemble Resonanz duschen den Ascheregen ab.

Tagsüber sind die Türen zwischen dem Vorderbereich und der eigentlichen Kantine geschlossen. Wer im Bademantel aus der Garderobe hierherschlurfen möchte, bleibt unbesichtigt.

20.12 Uhr: „Bitte alle für Agamemnon auf die Bühne.“ Teil 2 beginnt. Wenig später erholen sich die Techniker, die in der vergangenen Stunde die Bühne von den „Troerinnen“ auf „Agamemnon“ umgebaut haben. Das Einlasspersonal kommt endlich zum Abendessen. Yorck Dippe, Agamemnons jüngerer Bruder Menelaos, kommt allein am Tresen wieder zu sich.

Auf einem der Tische hier liegt der Presseordner, in dem die Schauspieler nachlesen können oder auch nicht, wie gut sie waren oder warum nicht. Der im Bedarfsfall tröstende Tresen ist nur wenige Meter entfernt. Ein Alkoholverbot für die Arbeitszeit gibt es im ganzen Schauspielhaus nicht. Eingehalten wird es trotzdem, heißt es.

21.05 Uhr: Lina Beckmann, Hektors Frau in den „Troerinnen“, hat ihren Textberg bewältigt. Leiden auf diesem Niveau macht durstig, eine Flasche Wasser, mehr soll es jetzt nicht sein.

21.28 Uhr: Olaf Rausch mit der nächsten Durchsage: „Der zweite Teil ist beendet.“ Kleine Pause, aber nicht für die Kantinenbelegschaft.

22.15 Uhr: „Künstlerische Debatten in der Kantine? Das ist vorbei. Ist eben auch nur ein Betrieb, der muss funktionieren. Von hier gehen keine großen politischen Veränderungen mehr aus. Die Zeiten haben sich ja auch außerhalb geändert.“ Götz Schubert, eben noch Agamemnon und noch in Unterhemd und Trainingshose, hat sich seinen Salat redlich verdient, dazu gibt’s Apfelschorle und Erdbeerjoghurt. Energie tanken nach all dem Wüten, Rasen und Leiden als König von Mykene auf nüchternem Magen da draußen, kurz hinter der Kantinentür. Vor Vorstellungen kann er nichts essen. Jetzt kann Schubert entspannt abwarten, bis die Lautsprecheransage das Ensemble zum Schlussapplaus auf die Bühne bestellt.

23.33 Uhr: „Unsere Vorstellung im Großen Haus ist beendet. Vielen Dank.“ Feierabend im Staatstheater. Anne Müller, die vor sechseinhalb Stunden als Iphigenie eine der Ersten auf der Bühne war, ist nun auch eine der Ersten am Tresen. Regie-Assistent Hauke Kleinschmidt folgt, dann kommen auch Wöhler und Minichmayr zum Abkühlen nach der Rolle aus der Garderobe. Die Nacht könnte hier noch lang werden für Schröter und seine Kollegen. Die „Rasenden“ schalten einen Gang runter und werden so schnell wieder normal, wie es nur Schauspieler nach fast sieben Stunden Tragödie schaffen.

Der Rest? Ist Schweigen.